- Amalia Sedlmayr hatte noch vor kurzem einen Ironman und Triathlon bewältigt, doch plötzlich kann sie nicht mehr gehen.
- Ihr Körper will nicht mehr gehorchen, ihr Gedächtnis hat Aussetzer und Worte findet sie nicht mehr.
- Lange Zeit durchläuft sie einen Marathon an Fehldiagnosen, doch dann gibt ein Test auf Schwermetalle im Blut Aufschluss über ihren Leidensweg.
- Ein Porträt einer mutigen, jungen Frau.
Köln – Zweimal schon musste das Rudertraining im Dezember in der Halle stattfinden. Zweimal binnen einer Woche. Windböen und Wellen auf der Regattabahn am Fühlinger See lassen nichts anderes zu. Das sind Situationen, die Amalia Sedlmayr hasst. Weil sie ihren Traum in Gefahr bringen.
Dann fährt sie mit ihrem Rolli die paar hundert Meter vom Studentenwohnheim der Sporthochschule in Müngersdorf zum Kraftraum des Olympia-Stützpunkts neben der Jahnwiese. Trockentraining nach Plan. Leistung fasziniere sie, sagt die 28-Jährige. „Ich bin Perfektionistin, kann nur schwer Fünfe gerade sein lassen.“
Zeiten, in denen gar nichts mehr ging
Es gab Zeiten, da war sie dazu gezwungen. Zeiten, in denen gar nichts mehr ging. Zeiten, in denen aus einer ambitionierten Triathletin eine schwerkranke Patientin wurde, die nach vier Rehas als austherapiert galt, die sich am Rollator gerade noch zehn Meter vorwärts schleppen konnte.
Amalias Leidensweg beginnt im Dezember 2013. Zwei Jahre zuvor noch hat sie die Mitteldistanz im Triathlon auf Mallorca bewältigt. Ein halber Ironman unter sieben Stunden. Nach 39 Grad Fieber in der Nacht zuvor. Sonst wäre sie schneller gewesen. Jetzt ist es kurz vor Weihnachten. Sie steht im Bad. Ihr rechtes Bein knickt weg. Die Muskeln krampfen. Sie kann sich kaum mehr aufrecht halten.
27 Kilo in sechs Monaten abgenommen
Ein halbes Jahr später hat Amalia 27 Kilo verloren. Ihr Hausarzt weist sie ins Krankenhaus ein. Muskelschmerzen, unerträglich und unerklärlich. Sie kann nicht mehr gehen. Doch nicht nur ihr Körper will nicht mehr gehorchen. Auch ihr Gedächtnis hat Aussetzer. Amalia hat Wortfindungsstörungen. Die junge Frau mit brasilianischen Wurzeln, ein Sprachgenie, das schon zu Schulzeiten neben Deutsch und Portugiesisch auch Spanisch und Englisch auf Sprachreisen mühelos erlernt, das an der Uni in Heidelberg Übersetzungswissenschaften studiert, hat plötzlich nur noch Brei im Kopf.
Eine Fehldiagnose nach der anderen
Die Ärzte wissen sich keinen Rat. Drei Jahre lang durchläuft Amalia einen Marathon an Fehldiagnosen. Knochenmark, Leber und das zentrale Nervensystem sind schwer geschädigt. Krampfanfälle schütteln sie. Spasmen befallen Finger und Füße. Die Nervenschmerzen sind die Hölle. Auf jede Reha folgen schlimmere Rückfälle. Sobald sie wieder zu Hause ist.
Einmal noch rafft sie sich auf. Reißt sich zusammen. Kämpft. Nach der vierten Reha lernt Amalia wieder gehen. Mit Orthesen. Trotz ihrer starken Spastik. Im Laufe des Jahres 2016 jedoch geht es rapide bergab. Wochenlang plagen sie unerträgliche Bauchschmerzen. Und wieder diagnostizieren die Ärzte Leberschäden und Knochenmarksstörungen.
Ein vermeintlich letztes Wiedersehen mit der Mutter
„Keiner wusste die Ursache und wie sich dieser Prozess aufhalten lässt“, sagt Amalia. „Ich habe meiner Mutter gesagt, sie solle vorbeikommen. Ich wollte sie noch einmal sehen. Mir war klar, dass den Ärzten nicht bewusst ist, wie schnell es mit mir abwärts geht.“
Wieder Krankenhaus. Bei der Aufnahme wühlt sich ein Assistenzarzt durch ihre Krankenakte. Er sieht: Alles ist untersucht worden. Nur ein Test steht aus – auf Schwermetalle im Blut. Das Ergebnis ist eindeutig. Amalia hat seit drei Jahren eine chronische schwere Bleivergiftung. Aber woher? Erneut stehen die Ärzte vor einem Rätsel.
Blei schädigt das Nervensystem
Blei reichert sich in den Knochen anstelle von Calcium an, schädigt das Nervensystem und führt unter anderem zu Lähmungen. Amalia ist völlig durcheinander. „Ich habe meine Mutter angerufen und sie gefragt: Was ist das denn? Blei? Sie hat es mir erklärt wie für ein kleines Kind. Ob ich mich daran erinnern könne, dass ich als Kind am Strand in Brasilien immer die kleinen Zylinder gesammelt habe, die von den Fischern genutzt werden, damit die Köder nicht aufschwimmen.“
Ja. Natürlich. Ja. In diesem Moment fällt Amalia der kleine Zierfisch ein. Gekauft vor drei Jahren auf einem Flohmarkt in Heidelberg. Als sie frisch an der Uni war. Sie hat ihn in ihrem Studentenzimmer in eine Karaffe gesetzt, aus der sie immer Wasser trinkt. Zur Zierde. Weil ein Fisch doch ins Wasser gehört. „Mama, meinst Du, der ist aus Blei?“ Die Situation hat etwas Absurdes. „Meine Mutter hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gesagt: »Dich kann man nicht 24 Stunden allein lassen. « Was für ein verrückter Satz. Ich war immer auf Reisen. Seit ich 16 bin.“ Die Laboruntersuchung bringt Gewissheit. Der daumengroße Fisch besteht zu 99,9 Prozent aus Blei.
Niemals aufgeben
Samstag vor Heiligabend. Amalia trägt ihr Boot aus der Halle des RHTC Leverkusen zur Regattabahn am Fühlinger See. Der Wind hat sich gelegt. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel.
Amalia hat ein Ziel. Sie will sich für die Paralympics in Tokio qualifizieren, eine Medaille holen. Im Mixed-Doppelzweier zusammen mit ihrem Schlagmann. In der paralympischen Bootsklasse PR 2, bei der nur Arme und Rumpf zum Einsatz kommen. Im Mai werden in Italien noch zwei Tickets vergeben. Die Kanadier sind ihre größten Konkurrenten.
Niemals aufgeben. „Das ist für mich keine Option.“ Seit 2016 kämpft sich Amalia Schritt für Schritt zurück ins Leben. Nach einem Jahr kann sie 300 Meter gehen – am Rollator. Zusätzlich zur Physiotherapie trainiert sie täglich eineinhalb Stunden, macht Kraft- und Koordinationsübungen. „Bewegung ist mein Leben“, sagt sie. Ihre Kenntnisse vom Leistungsschwimmen und Triathlon helfen ihr dabei. Tabletten entgiften langsam ihren Körper. Wie weit kann keiner genau sagen.
Kognitiven Fähigkeiten kehren zurück
Es ist nicht ihr einziger Kampf. Mit ihrem zweiten Studium der Fächer „Sport und Leistung“ kommt sie ganz gut voran. Das erste – Übersetzungswissenschaften in Heidelberg – hatte sie aufgeben müssen, bekommt lange Zeit Sprachtherapie, muss alles neu lernen. Verschiedene Memo-Techniken helfen ihr, das Gedächtnis zu fördern. Sie kramt alte Sprachlernbücher aus Schulzeiten hervor. Sie sind ihr eine große Hilfe. Seit 2018 benötigt Amalia weniger Medikamente, fühlt sich immer besser im Kopf. Langsam kehren ihre kognitiven Fähigkeiten zurück.
Das könnte Sie auch interessieren:
An der Wand in ihrem Wohnheim-Zimmer der Sporthochschule pappt ein Tapetenstück voller guter Wünsche. Daneben Fotos und Postkarten – auch aus ihrem alten Leben. Seit einem Semester fördert die Sportstiftung NRW ihren Paralympics-Traum. Doch schon tut sich die nächste Hürde auf. Das BAföG-Amt rechnet die Förderung als Einkommen an. Amalia hat Widerspruch eingelegt. Aufgeben ist keine Option. Auch wenn die Füße schmerzen, die verkrampften Muskeln sie zurück in den Rollstuhl zwingen.
2021 will sie wieder schmerzfrei gehen können
„Ich war mir immer sicher, dass das alles einen Sinn hat.“ Wir sitzen uns gegenüber. In einem Seminarraum des Olympiastützpunkts. Es ist Sonntag. Amalia erzählt, wie sie mit 13 Jahren über einen Bekannten ihrer Mutter zum Glauben fand. Damals habe sie Menschen kennengelernt, die so völlig anders miteinander umgingen. Liebevoller, getragen von einer inneren Stärke. „Ich habe meine Beziehung zu Jesus gefunden“, sagt sie, „gelernt, dass sich der Wert eines Menschen nicht darüber definiert, was er zu leisten vermag. Selbst wenn ich nichts mehr kann, meine Sprachen nicht mehr fließend spreche, nicht mehr die Athletin bin, die ich mal war, werde ich geliebt. Weil ich ich bin. Alles andere ist die Extrakirsche auf der Sahnetorte.“ Jeder Mensch habe mit Dingen zu kämpfen, die nicht hundertprozentig laufen. „Wichtig ist, dass wir uns davon nicht einschränken lassen, sondern unser Potenzial entfalten.“
Nach Tokio wird Amalia beide Füße amputieren lassen. Deren Zustand hat sich so gravierend verschlechtert, dass sie selbst nach langwierigen Operationen, die ständig Korrekturen erfordern, höchstens Treppen steigen könnte. Unter Schmerzen. Sie habe mehrere Spezialisten aufgesucht und danach entschieden: „,Für mich, die man zur Bewegung nie ermuntern musste, ist das keine Mobilität. Da bevorzuge ich lieber Prothesen.“ 2021 will Amalia Sedlmayr wieder schmerzfrei gehen können. Auf zwei funktionierenden Füßen.