Lahm fährt Bahn. Die Bahn fährt lahm. Der Mythos von deutscher Perfektion? Ein Sommermärchen.
KommentarWie das EM-Verkehrschaos am Mythos der deutschen Perfektion nagt
Es ruckelt in Deutschland. Der Rasen in Frankfurt ist nicht EM-tauglich. Das kommt nicht überraschend, war schon bei der Wasserschlacht im WM-Zwischenrundenspiel 1974 gegen Polen so. Damals hieß die Deutsche Bahn noch Deutsche Bundesbahn, fuhr bei jedem Wetter, also auch bei Dauerregen. Pünktlich auf die Minute.
Ein halbes Jahrhundert später ist der Frankfurter Rasen auch ohne Dauerregen versumpft. Weil dort im vergangenen Herbst (!) American Football gespielt wurde. Die Bahn fährt bei keinem Wetter. Jedenfalls nicht pünktlich. Und dankt den Fans für ihre Geduld und Nachsicht.
Lahm fährt Bahn, Bahn fährt lahm
Aber die Schweiz ist Europameister. Reise-Europameister. Diesen Titel, erstmals vergeben von der Deutschen Bahn, hat sie schon nach der Vorrunde sicher. Daran kann auch der Kopfballtreffer für Deutschland von Joker Füllkrug in der Nachspielzeit nichts mehr ändern, der die Fußball-Euphorie nochmal entfacht. Wenn selbst der Bundestrainer sagt, er „nehme ein solches 1:1 lieber mit als ein klares 4:0“, sorgt das für noch mehr gute Laune. Gute Laune wegen eines Treffers in der Nachspielzeit. Es geht abwärts mit Deutschland. Selbst beim Fußball treffen wir nicht mehr pünktlich.
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Die Schweiz ist laut Bahn Reise-Europameister, weil ihre „Nati“ zu den Spielen schon fünfmal mit dem ICE gefahren ist. Mit 100 Prozent Ökostrom. Darunter zweimal nach Köln und einmal nach Frankfurt. Drei Spiele, fünf Fahrten – da müssen zwingend gar Hochrisikofahrten zum Spielort und nicht nur entspannte Rückreisen dabei gewesen sein. Bei denen es egal ist, wie lange sie dauern.
Mitten hinein in die Hochburg der Oberleitungsschäden: Nach Köln
Vom Trainingsquartier in Stuttgart mitten hinein in den Bahnknoten Köln, jener Hochburg der Oberleitungsschäden, Stellwerksstörungen, Weichenschäden und Zugankünfte in umgekehrter Wagenreihung. Und das bei einer Pünktlichkeitsquote im Fernverkehr, die im Mai bei 63,1 Prozent lag. Eine Zahl nach der ersten EM-Woche gibt die Bahn nicht preis. „Die Pünktlichkeitswerte werden stets gesamthaft nur einmal im Monat kommuniziert“, schreibt ein Bahnsprecher auf Anfrage. Also Anfang Juli. Nach dem Ende der Vorrunde, wenn acht Mannschaften schon wieder zu Hause sind.
Wie die Schotten, die den öffentlichen Nahverkehr durch ihr frühes Ausscheiden aber kaum entlasten werden, weil sie grundsätzlich zu Fuß mit Kilt und Dudelsack zum Stadion marschieren.
Was glauben Sie, wie erleichtert man bei den Kölner Verkehrs-Betrieben nach der Auslosung war? Schottland spielt in Köln. Kein Problem. Das schaffen wir.
Pünktlichkeitswerte kommen erst Anfang Juli
Geruckelt hat es trotzdem. Vor dem Spiel der Schotten gegen die „Nati“ ist zwischen Heumarkt und Neumarkt vier Stunden vor Anpfiff im Cologne Stadium eine Straßenbahn liegengeblieben. Das musste so sein. Damit die FC-Fans sich nicht fragen, warum das immer nur ihnen passiert.
Zum Achtelfinale müssen die Schweizer am Samstag von Stuttgart nach Berlin. Anstoß 18 Uhr. Dank Füllkrug. Das haben sie jetzt davon. Als Gruppensieger hätte es der Reise-Europameister beim Spielort Dortmund um 21 Uhr deutlich entspannter angehen und einen zeitlichen Puffer einbauen können. Abfahrt 13.51 Uhr, dreieinhalb Stunden ohne Umsteigen, mittlere Auslastung erwartet, ab 69,99 Euro. Pro Person ohne Bahncard. Für einen Schweizer Nationalspieler ist das der Nulltarif.
Aber Berlin? Womöglich mit Zugteilung zwischen Köln und Hamm. Die erste Elf fährt über Wuppertal, die Reservekicker über Düsseldorf. Das nennt man flügeln. Wie beim Fußball. Wenn der eine Flügel liegenbleibt, kann der andere von Hamm aus eigener Kraft weiterkommen. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Irgendwie kriegen wir das hin! Falls der Lokführer nicht erkrankt ist oder anderweitig ausfällt. Weil er pünktlich zum Deutschlandspiel zu Hause sein möchte.
Der Mythos vom perfekten Deutschland ist ein Sommermärchen
Warum nur hält sich in Europa dieser Mythos vom perfekten Deutschen, immer pünktlich, effizient, ständig dabei, sich selbst zu optimieren und Weltmeister im Müllsortieren? Dabei geben wir seit Jahren alles, um diesem Eindruck entgegenzuwirken.
Das sind wir nicht, das waren wir nie, und das wollen wir auch gar nicht sein. Das ist ein Sommermärchen. Spätestens seit 2006.
Selbst das Spitzenamt zur Europameisterschaft haben wir mit Entspannung besetzt. Der EM-Orga-Chef heißt Philipp Lahm. Lahm fährt Bahn. Bahn fährt lahm. Natürlich kommt er zu spät nach Düsseldorf zur Partie der Ukraine gegen die Slowakei und postet anschließend auf der Plattform X: „PS: @db_bahn wie ihr seht, ich bleibe treuer Bahn-Kunde.“
Stundenlanges Warten auf Bahnsteigen in Gelsenkirchen
Zur angeblichen deutschen Effizienz schreibt ein Reporter der „New York Times“ schon nach den ersten Tagen des Turniers als Hinweis an die Leser: „Vergessen Sie alles, was Sie meinten zu wissen“. In dem Artikel wird dann vor allem von verstopften U-Bahnen in München vor dem Eröffnungsspiel und stundenlangem Warten auf Gelsenkirchener Bahnsteigen referiert.
Ja, was glauben die denn, wie man Zehntausende Fußballfans in Schmalspurbahnen auf 1000 Millimeter breiten Schienen über zwölf Stationen oberirdisch mit der Linie 302 von der Veltins-Arena zum Hauptbahnhof transportiert? Vorbei an Kultstätten wie dem Ernst-Kuzorra-Platz und der Schalker Meile. Das dauert. Da wäre ein bisschen Demut durchaus angebracht.
Nach 23 Uhr fährt die Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahn nur noch im Halbstundentakt. Bis 0.34 Uhr. Dann ist Schicht im Schacht. Negativ aufgefallen seien zudem die Organisation der Fußwege an den Stadien und die deshalb langen Schlangen beim Einlass, klagt der Reporter. Der ist anscheinend noch nie mit der New Yorker Subway in Berührung gekommen.
Züge in Köln und München „unzuverlässig und glühend heiß“
Auch die englische „Daily Mail“ berichtet von „entsetzlichen Szenen“, als tausende Fans nach der Partie England gegen Serbien am frühen Morgen stundenlang auf Trambahnen warten mussten, die sie vom Schalker Stadion in Richtung Hotels brachten.
Selbst Fangruppen klagen, darunter etwa eine Vereinigung von schottischen Anhängern. Deutschland habe sie als Gastgeber zwar herzlich willkommen geheißen, schreiben sie in einem Facebook-Eintrag. Mit dem öffentlichen Verkehr aber habe man „schlechte Erfahrungen“ gemacht. Die Züge in München und Köln seien „unzuverlässig und glühend heiß“ gewesen und darüber hinaus über jede Art von Limit mit Fahrgästen vollstopft worden.
Das mag ja stimmen. Und wird wahrscheinlich am Fahrplan liegen. Aber Fahrpläne interessieren uns schon lange nicht mehr. Sie sind einfach unzuverlässig, weil sich kein ICE, keine U-Bahn und keine Straßenbahn nach ihnen richtet. Deshalb haben die Kölner die KVB-Minute erfunden, die exakt so lange dauert, bis der Zug kommt.
Sollte der Nagelsmann-Fahrplan, der die Mannschaft über Dortmund, Stuttgart und München nach Berlin führen soll, wegen einer Torstörung nicht aufgehen, bleiben wir einfach entspannt und freuen uns auf die Zweite Liga, die für den 1. FC Köln am 2. August mit einem Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf beginnen könnte. In einem Stadion, das sich zu Fuß sehr gut erreichen lässt, wenn es bei der KVB mal wieder ruckelt.
Das haben die Schotten, schon jetzt Fanmarsch-Europameister, bewiesen: Auch zu Fuß kann man was reißen. (mit dpa)