Köln – Man muss es ihm ja nicht glauben. Karl Lauterbach sagt, er könne überhaupt nicht einschätzen, wie sich seine Corona-Politik auf das Wahlergebnis auswirken wird. Lauterbach, der längst als künftiger Gesundheitsminister einer SPD-geführten Regierung gehandelt wird und sich inzwischen auch gern selbst ins Gespräch bringt („Ich würde das nicht ablehnen“), steht gerade massiv unter Druck. Denn ein paar Stimmverluste im Leverkusener Norden oder Köln-Höhenhaus könnten ihn das Ministeramt kosten. Und den Platz im Bundestag.
Aber Corona, darauf besteht der 58-Jährige, „habe ich im Wahlkampf nicht zum Thema gemacht“. Das stimmt grob und es ist durchaus erstaunlich. Das Über-Thema, der gesellschaftliche Zustand der letzten anderthalb Jahre – Lauterbach war derjenige, dem man zugehört hat, wenn es um Wege aus der Krise ging. Er will damit nicht die Wahl gewinnen. Stattdessen kämpft er vor dem Rathaus mit den „Stadtteilmüttern“ aus Mülheim für 150 000 Euro, mit denen benachteiligte Familien geholfen werden soll. Wirbt für klimaverträgliche Neubauten in Mülheim, für eine „moderne, ansehnliche Architektur mit einer Holzbauweise“ in seinem wachsenden Wahlbezirk, für die es nur wenig Versiegelung brauche. Der Großerklärer fühlt sich auch im Kleineren wohl.
Karl Lauterbach und Serap Güler: Alles oder nichts
Dass der Wahlkampf für den Favoriten kein Selbstläufer ist, liegt vor allem an Serap Güler. Die 41-Jährige ist unter Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen Staatssekretärin für Integration, sie steht für eine moderne, weltoffene CDU. Soziale Gerechtigkeit sei ihr Hauptthema, sagt sie. 41 Jahre jung, weiblich, mit Migrationshintergrund und einer ganz eigenen Agenda. Bisweilen wirkt sie wie ein Fremdkörper in der christdemokratischen Altherrenlandschaft.
Trotzdem oder vielleicht genau deshalb schüttelt niemand in Laschets Umfeld mit dem Kopf, wenn man fragt, ob sie unter ihm die erste Bundesintegrationsministerin wird. Fraglich ist aber, ob Gülers achter Platz auf der Landesliste überhaupt für den Bundestag reicht. „Es sieht nicht danach aus, dass die Liste zieht“, gesteht Güler: „Ich gebe Vollgas.“ Sie muss wohl Lauterbach schlagen. Güler würde gerne in den Entwicklungshilfeausschuss, will, dass Deutschland die Situation in Syrien und Afghanistan nicht einfach akzeptiert. Will Kinderarmut bekämpfen. Und Köln voranbringen: Wie wenig E-Ladesäulen es in der Stadt gibt, sei „ein absoluter Witz“, sagt Güler. In der Mobilität müssen Kommunen mehr von Bundesmitteln profitieren, sagt sie.
Der grüne Wahlkampf kann entscheiden, ob SPD oder CDU gewinnen
Lauterbach und Güler haben beide gute Chancen, in der nächsten Bundesregierung ein Ministerium anzuführen. Aber für beide gilt auch: Es ist gut möglich, dass sie nicht einmal in den nächsten Bundestag einziehen. Alles oder nichts. Wie sich die politischen Karrieren der beiden weiterentwickeln, hängt am Ende vielleicht von einer Frau ab, die „inhaltlich viele Übereinstimmungen mit Herr Lauterbach“ hat, wie sie selbst sagt. Die 27-jährige Nyke Slawik, Spitzenkandidatin der Grünen Jugend in NRW, wird wohl auch ohne Direktmandat im nächsten Bundestag sitzen. Und tritt vielleicht auch deshalb so auf, wie sie auftritt: frech, unbedarft, verlangt der eigenen Partei etwa mit der Forderung nach einer scharfen Mietpreisbremse auch etwas ab.
Sie und Lauterbach sind sich einig: Ob die Klimawende rechtzeitig gelingt, hängt entscheidend an der nächsten Bundesregierung. Slawik, die als erste transidente Person in den Bundestag einziehen würde, will Kinderarmut bekämpfen und den Autobahnausbau im Kölner Umland unterbinden. Karl Lauterbach findet sie „sehr sympathisch“. Geht es seinen Wählern auch so? Nimmt sie dem SPD-Kandidaten genug Stimmen weg, könnte am Ende Serap Güler profitieren, mit Blick auf das Ergebnis von 2017 keine unrealistische Konstellation (siehe Grafik zur Wahl 2017).
„Natürlich macht man sich Gedanken“, sagt Slawik, um fast ein bisschen entschuldigend zu ergänzen: „Es ist legitim, dass sich jede Partei um ein Direktmandat bewirbt.“ Ohne Rückhalt in der eigenen Partei sei ohnehin nicht viel zu gewinnen: „Ein Karl Lauterbach macht noch keine progressive SPD.“ Sie weist vorsichtig darauf hin, dass nicht wenige der Meinung seien, Lauterbach sei in der falschen Partei.
Serap Güler: „Das ist ein Arbeiterwahlkreis“
Ähnliches sagt mancher auch über Serap Güler. Doch das ist nicht das Lieblingsthema der CDU-Politikerin. Wer denke, ihre Partei könne keine soziale Politik, „sollte sich mit der CDU ein bisschen auseinandersetzen“, sagt sie. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann sei ihr Vorbild und sowieso „parteiübergreifend der Sozialpolitiker schlechthin“.
Köln-Mülheim, Leverkusen, „das ist ein Arbeiterwahlkreis“, sagt Güler: „Und ich bin ein Arbeiterkind. Ich bin der Lebensrealität dieser Menschen sehr viel näher als manch anderer, der geistig vielleicht noch in Harvard steckt.“ Karl Lauterbach, das sollte man an dieser Stelle wissen, hat in Harvard studiert. Der Professor würde sich „gerne daran beteiligen“, in Deutschland „eine deutlich bessere Gesundheitspolitik als in den letzten vier Jahren“ zu etablieren. Und meint damit dann wohl doch auch die Corona-Politik, zumindest ein bisschen.
Über Serap Güler verliert er kaum ein Wort, will keinen Abgrenzungswahlkampf führen. Das wäre wohl auch wenig zielführend: Bezahlbare Mieten, eine neue Verkehrspolitik, weniger Armut, die Übereinstimmungen unter allen dreien sind einigermaßen erstaunlich. Und doch entscheidet sich in Wahlkreis 101 Grundlegendes für ganz Deutschland.