- Besonders viele Kölner Katholikinnen und Katholiken kehren der Kirche den Rücken zu.
- In diesem Artikel bewerten Expertinnen und Experten die dramatische Lage – und auch das Kölner Erzbistum nimmt Stellung.
Köln – Im Erzbistum Köln ist die Zahl der Kirchenaustritte auf ein einsames Niveau gesprungen. 2021 verließen fast 41.000 Katholikinnen und Katholiken ihre Kirche. Das waren fast 17.000 mehr Austritte im Erzbistum als im bisherigen Rekordjahr 2019 und sogar 23.000 mehr als im folgenden Jahr 2020. Prozentual liegt der Anstieg binnen eines Jahres bei mehr als zwei Drittel.
Wie aus der aktuellen Jahresstatistik der Deutschen Bischofskonferenz hervorgeht, musste die katholische Kirche in Deutschland 2021 fast 360.000 Austritte verzeichnen. Mit einer mehr 60-prozentigen Steigerung binnen eines Jahres ist auch das eine bislang nie dagewesene Zahl. Der Höchstwert hatte 2019 bei 272.000 gelegen. Im Jahr danach ging die Austrittszahl coronabedingt auf 221.000 zurück.
Dramatische Zahlen
In ihrer Dramatik sind die Austrittszahlen eigentlich nicht zu beschönigen. Sie beschleunigen den demografisch bedingten Mitgliederschwund: Alljährlich gibt es mehr Sterbefälle als Taufen. Im Vorjahr lag das Delta bei 100.000, wobei die Statistik nur die Zahl der kirchlichen Bestattungen erfasst.
Zusammen mit den Austritten verlor die katholische Kirche in Deutschland somit binnen eines einzigen Jahres fast 547 000 Menschen, das sind 2,5 Prozent ihrer Mitglieder. Nun gehören noch 21,64 Millionen Menschen in Deutschland der katholischen Kirche an.
So viele Katholiken wie im ganzen Bistum Limburg
Der Schwund von gut einer halben Million entspricht in etwa der Katholikenzahl in Bistümern wie Hildesheim, Osnabrück oder Limburg. Wenn man sich einmal vorstellt, dass es dort übers Jahr niemanden mehr gäbe, der noch in der katholischen Kirche ist, wird die „tiefgreifende Krise“ fassbar, von der Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, stellvertretend für die Oberhirten der 27 Bistümer spricht.
Er sei „zutiefst erschüttert“, sagt Bätzing zu der „extrem hohen Zahl von Kirchenaustritten – eine Reaktion, die man in kirchlichen Stellungnahmen seit Jahren im „Copy&Paste“-Verfahren aus der einen in die nächste übernehmen könnte.
Bätzing setzt auf den „Synodalen Weg“
Ebenso austauschbar sind Begriffe wie Aufbruch und Erneuerung. 2021 setzt Bätzing hier dezidiert auf den „Synodalen Weg“, mit dem die katholische Kirche in Deutschland den systemische Ursachen für sexualisierte Gewalt in der Kirche entgegentreten will.
Ob sie mit der beabsichtigten Überholung ihrer Sexualmoral, einem zeitgemäßeren Priesterbild, mit Schritten in Richtung Gewaltenteilung und Machtkontrolle oder Gleichberechtigung der Frauen wirklich anschlussfähig an die Gegenwart wird und so „die Kraft des Evangeliums zur Entfaltung bringen und ins Lebens übersetzen“ kann (Bätzing) – das ist mehr als fraglich.
Bischöfe ziehen die Corona-Karte
Fast wirkt es, als zweifelten die Bischöfe selbst daran. Denn trotz der Versicherung, nichts schönreden zu wollen, zieht ihre Pressemitteilung erneut die Corona-Karte, um den Einbruch des kirchlichen Lebens zu erklären. Dabei waren die Kirchen 2021 bereits die meiste Zeit fast ungehindert zugänglich.
Dennoch ging der Gottesdienstbesuch, ein wichtiger Indikator für Kirchenbindung und Zugehörigkeitsgefühl, gegenüber dem „Lockdown-Jahr“ 2020 noch einmal von 5,9 Prozent auf 4,3 Prozent zurück. Damit hat sich der Kirchenbesuch in nicht einmal zwei Jahren mehr als halbiert. 2019 lag die Quote noch bei 9,1 Prozent.
Thomas Schüller: Erosion schreitet ungehemmt voran
Der Münsteraner Theologe und Kirchenrechtler Thomas Schüller macht das ungehemmte Voranschreiten eines „dramatischen Erosionsprozesses aus und nimmt dafür speziell den Kölner Kardinal Rainer Woelki in die Verantwortung. In Köln, dem immer noch größten Bistum mit jetzt noch 1,8 Millionen Mitgliedern, waren die Austrittszahlen 2021 überdurchschnittlich hoch. „Der dramatische Erosionsprozess in der katholischen Kirche schreitet ungehemmt voran“, sagte Schüller dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Es reiche nicht mehr aus, von Kernschmelze und Implosion zu reden. Auch wenn es nicht nur einen Grund für die mehr als 30-prozentige Steigerung gegenüber dem bisherigen Rekordjahr 2019 mit 273.000 Austritten gebe, werde man für das Jahr 2021 von einem Woelki-Tsunami sprechen können.
„Indiskutables Leitungshandeln“
Das belegten nicht nur die dramatischen Zahlen aus dem Erzbistum Köln. Vielmehr hätten sich „das indiskutable Leitungshandelns des Kölner Kardinals Rainer Woelki im Umgang mit sexualisierter Gewalt und ihren Betroffenen in der Kirche sowie sein verschwenderischer und weithin rechtlich fragwürdiger Umgang mit Kirchenvermögen für zweifelhafte Zwecke unmittelbar auch auf alle anderen 26 Diözesen ausgewirkt“.
Schüller fuhr fort: „Erschütternd ist dabei, dass nun auch tief mit ihrer Kirche verwurzelte Katholikinnen und Katholiken austreten, die ihrer Kirche nicht mehr zutrauen, Reformen anzustoßen und den Opfern sexualisierter Gewalt in der Kirche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ Diese Entwicklung müsse alle in der Kirche mit großer Sorge erfüllen und hoffentlich endlich aufrütteln“.
Das Erzbistum Köln wies Schüllers These eines „Woelki-Effekts“ zurück. Bundesweit zeige sich überall ein ähnliches Bild. „Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, zurückhaltend zu sein und keinen monokausalen Zusammenhang für die Entwicklung im Erzbistum anzunehmen“. erklärte ein Sprecher. So wie es nicht ausreiche, die gestiegenen Zahlen mit einem coronabedingten Nachholeffekt zu begründen, „so erscheint die Ursachen-Fokussierung auf die Bistumsleitung zu einfach“.
Fragen aus dem Austritts-Allzeithoch
Für die Erfurter Theologieprofessorin Julia Knop ergeben sich aus dem „Allzeithoch“ bei den Kirchenaustritten drängende, bohrende Fragen an die Kirchenleitung: „Bedauern, Analysieren, alles gut und schön. Aber der sichtbare Effekt der Skandale ist doch: Gläubige gehen, Bischöfe bleiben. Welche Konsequenzen ziehen die Bischöfe aus der Abstimmung mit den Füßen?“, fragt Knop im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Es sei nicht nur „keine Selbstverständlichkeit mehr“ (Bischofskonferenz), zur Kirche zu gehören und zu bleiben, sondern eine Gewissensfrage. Früher habe es schlicht geheißen: „Soll ich gehen oder soll ich bleiben?“ Inzwischen aber fragten sich viele Katholikinnen und Katholiken: „Ist es moralisch überhaupt noch vertretbar, zu dieser Kirche zu gehören? Oder unterstütze ich damit nicht ein Unrechtssystem?"
Zweifel am Reformwillen der Kirchenleitung
Zwar sei das Bemühen um Reformen richtig, sagt Knop, die als Mitglied der Synodalversammlung selbst an den laufenden Bemühungen beteiligt ist und wichtige Texte zu Machtkontrolle und Gewaltenteilung mitverfasst hat. „Das Problem ist aber weniger, dass dieser Aufbruch noch nicht bei den Gläubigen angekommen sei, wie Bischof Bätzing schreibt, sondern mehr, dass die Gläubigen am Willen der Kirchenleitung zum Aufbruch zweifeln, weil er sich bislang auf Absichtserklärungen beschränkt.“
Die Austrittszahlen seien daher nicht nur die Reaktion auf Skandale und Missstände in der Kirche, „sondern auch das Signal, dass man den Kirchenleitungen nicht mehr den Willen und die Fähigkeit zutraut, sie zu überwinden“, so Knop. „Ja, die ‚Botschaft des Evangeliums hat Kraft‘, aber in der katholischen Kirche offensichtlich für viele keinen Ort mehr. Womöglich war es genau die Botschaft des Evangeliums, die Menschen zum Austritt motiviert hat. Sie sind gegangen, um Christ oder Christin bleiben zu können.“
Kölner Generalvikar Hofmann: Schmerzlicher Weg
Woelkis scheidender Generalvikar Markus Hofmann setzt die Akzente erwartungsgemäß etwas anders. Auch er sieht mit Schmerz, „dass sich viele Menschen angesichts der derzeitigen Situation ganz bewusst von der Institution Kirche abwenden“. Und gleich noch einmal ist von Schmerz die Rede, nämlich auf dem „Weg der Aufarbeitung“, der mit „anderen Krisen“ das Vertrauen vieler Menschen in die Kirche heftig erschüttert habe.
Hofmann findet das besonders bitter, „weil gerade angesichts der Flutkatastrophe, angesichts der vielen Flüchtlinge aus der Ukraine und nicht zuletzt auch angesichts der Corona-Krise viele Menschen erleben konnten, was die Kirche und damit auch das Erzbistum Köln in der Lage ist zu leisten – mit ganzem Herzen, aber auch personell und finanziell“.
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In der bundesweiten Statistik liegt Köln mit den fast 41.000 Austritten deutlich an der Spitze, gefolgt von anderen mitgliederstarken Bistümern wie München mit 35.300 Austritten oder Freiburg mit 30.000. Schaut man neben den absoluten Zahlen auch auf den Anteil der Austritte an der Mitgliederzahl, dann ergibt sich noch ein etwas anderes Bild: München landet hier mit 2,19 Prozent fast gleichauf zu Köln (2,18), Hamburg sogar noch darüber (2,53). In beiden anderen Bistümern standen die Erzbischöfe Reinhard Marx im Süden und Stefan Heße im Norden wegen des Missbrauchsskandals auch persönlich unter erhöhtem Druck.
In Berlin war das nicht der Fall. Dennoch hat das Bistum in der stark säkularisierten Hauptstadt samt Umland prozentual anteilig den höchsten Aderlass (2,72 Prozent) zu beklagen.