Zum Abschluss des Kölner Sommerfestivals gastiert eine Hamburger Produktion von „Cabaret“ in der Philharmonie. Unsere Kritik.
„Cabaret“ in der Kölner PhilharmonieTim Fischer in der Rolle seines Lebens – aber eine Theaterlegende ist der heimliche Star
Hier, im Cabaret, ist das Leben schön, hier gibt es keine Sorgen. Die Mädchen sind schön. Die Jungs sind schön. Sogar das Orchester ist schön. „Beautiful!“, beteuert Tim Fischer als Conferencier des anrüchigen Kit Kat Clubs, lässt die knallroten Lippen zum stimmhaften Verschlusslaut genüsslich ploppen, um mit den Vokalen umso höher zu steigen. Wer seinen Versprechungen glaubt, wiegt sich jedoch in falscher Sicherheit, selbst in den bequemen Sitzen der Philharmonie, von denen aus man die „Cabaret“-Produktion des Hamburger St. Pauli Theater im Rahmen des 35. Kölner Sommerfestivals verfolgen kann.
Als der legendäre Broadway-Impresario Hal Prince in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Rechte an Christopher Isherwoods Geschichten aus dem Berlin der taumelnden Weimarer Republik erwarb, stellte er sich eine durchaus düstere, ungemütliche Adaption vor, eine die Parallelen zwischen dem drohenden Abgrund der Hitler-Diktatur und den sozialen Unruhen in den USA zog, vor allem in den segregierten Südstaaten.
Bühnenlegende Angela Winkler berührt als verliebte Pensionswirtin
Knapp 50 Jahre später, zurück im Vaterland, drängen sich die Parallelen zwischen dem Musical von John Kander (Musik), Fred Ebb (Lyrics) und Joe Masteroff (Buch) und der Gegenwart umso deutlicher auf. Etwa wenn das ältliche Fräulein Schneider die angestrebte Heirat mit ihrem Pensionsgast, dem Obsthändler Schultz, am Morgen nach der Verlobungsfeier am Nollendorfplatz absagt. Dass Schulz jüdischen Glaubens ist, hatte sie zuvor nicht im Geringsten gestört. Doch jetzt, wo die Nachbarn und sogar einige ihrer Freunde zu den Nazis übergelaufen sind, bekommt sie es doch mit der Angst zu tun.
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Angela Winkler, die deutsche Schaubühnen- und Filmlegende, spielt und singt sie als verspätetes, schüchternes Mädchen, überwältigt von einer Ananas, die ihr zum Geschenk gemacht wird. Den rauen Verhältnissen hat sie wenig entgegenzusetzen, sie weiß nur: Wenn das die neue Normalität sein soll, ist ihre Liebe aussichtslos.
Unweigerlich denkt man an den blauen Osten und das ist kein Grusel, den man genießen kann. Später sieht man, während die Tänzerinnen und Tänzer des Kit Kat Clubs ein letztes Mal zum nun schrill klingenden „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ die Beine schwingen, den verlassenen Herrn Schultz im Bühnenhintergrund zum Ausgang irren, an seinem Mantel klebt ein gelber Judenstern. Peter Franke verdient sich in seiner Rolle den größten Applaus des Abends.
Das betagte Paar sucht man in der berühmten „Cabaret“-Verfilmung von Bob Fosse vergeblich, die Kinoversion von 1972 ist ganz auf ihren Star Liza Minnelli und deren flatterhaftes Revuegirl Sally Bowles zugeschnitten. Auf der Bühne der Philharmonie aber ergänzen sich die beiden zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichten – Sally Bowles und ihr armer amerikanischer Schriftsteller Cliff Bradshaw, Fräulein Schneider und ihr Obsthändler – aufs Eindrücklichste, zeigen, mal herzerwärmend, mal sehr viel harscher, wie die scheinbar unaufhaltsame Barbarei jedes mögliche Glück zerstört. In „Anatevka“, Hal Princes großem Musical-Erfolg vor „Cabaret“, folgt auf ein Pogrom die Hoffnung, hier nur der Weltuntergang. Die Zukunft, das wäre das gemeinsame Kind von Cliff und Sally. Sie lässt es wegmachen, ihre Fahrkarte nach Paris bleibt achtlos auf der Bühne liegen, Zuflucht sucht sie im Kit Kat Club.
Tim Fischer ist in diabolischer Hochform
Aber selbst der bietet keinen safe place inmitten politischer Wirren. Von wegen sorgenfrei. Bestenfalls hält er der Realität ein Zerrbild vor. Kaum ist die traurige Reprise des allzu harmlosen Heiratsliedes verklungen, tanzt Tim Fischer in diabolischer Hochform mit einer Gorilladame im rosa Tutu. „Wenn wir zusammen in der Öffentlichkeit sind“, singt er, „höre ich die Menschen aufstöhnen/Aber wenn sie sie durch meine Augen sehen könnten/Würden sie uns vielleicht in Ruhe lassen.“ Könnten wir seine Geliebte nur durch seine Augen sehen, zischt er am Ende des Lieds giftig: „Würde sie überhaupt nicht jüdisch aussehen.“ Eine Zeile, die in der Originalproduktion noch zensiert werden musste, erst der Film fügte sie wieder hinzu.
Ist der Conferencier ein Zyniker, der alles tun würde, wenn es nur die Aufmerksamkeit des Publikums erregt? Oder sieht er einfach klarer als seine Zeitgenossen? „Nichts berührt mich“ singt Tim Fischer und gerade diese Nummer berührt doch sehr. Er bleibt ein Enigma, sachdienlichen Hinweise auf die Lösung dieses Rätsels gibt der Chansonnier keine, aber er spielt hier die Rolle seines Lebens.
Die absolut sehenswerte Inszenierung von Ulrich Waller und Dania Hohmann verzichtet auf interpretative Ansätze, die schreiben sich hier von selbst. Dafür bringt das Regie-Duo den Stoff zum Schwingen. Bühne und Bühnenwirklichkeit greifen eng ineinander: Die Tänzerinnen und Tänzer erledigen kleine Umbauarbeiten mit Verve (Choreografie: Kim Duddy), der Kontrabassist der siebenköpfigen Liveband lässt sich als einer von vielen Matrosen von der Pensionsprostituierten Fräulein Kost (Anne Weber) verführen.
Letztendlich dienen in dieser Produktion alle der Geschichte. Sven Mattke flirtet als Autor auf Themensuche zwar sowohl mit der Halbwelt des Cabarets als auch mit den Ideen der Nationalsozialisten, bleibt dabei aber, als Vertreter des Publikums, stets aufrecht. Er ist ein würdiger „straight man“ auf dem Deck dieses Leck geschlagenen Narrenschiffs. Holger Dexne muss als Nazi-Schmuggler vor allem den Plot vorantreiben, aber er stattet seinen Antagonisten mit so gut gelaunter Leutseligkeit aus, dass es schwerfällt, ihn zu verachten.
Selbst Anneke Schwabe als Sally Bowles ist hier nur ein Star unter mehreren. Aber was für einer: Seit beinahe 20 Jahren spielt sie die Hauptattraktion des Kit Kat Clubs, den Seiltanz zwischen Komik und Tragik, zwischen Verletzlichkeit und Rücksichtslosigkeit hat sie perfekt ausbalanciert, kulminierend in Sally Bowles berühmter Solonummer: Wackelig tastet sie sich an dessen simple Botschaft heran: „Was nützt es, allein in deinem Zimmer zu sitzen?/ Komm' und hör die Musik spielen“, gewinnt von Zeile zu Zeile an Selbstbewusstsein, bis sie stimmmächtig herausposaunt: „Life is a cabaret, old chum!“ Großes Kino auf der kleinen Bühne: Da findet jemand erst in völliger Verblendung zu sich selbst.
„Cabaret“ gastiert noch bis zum 4. August in der Kölner Philharmonie. Karten gibt es hier.