Köln – Haben Sie fünf Minuten mehr?“ fragte Simon Rattle mit typisch britischem Understatement in die Runde – als wolle er sich dafür entschuldigen, die Geduld des Publikums mit der Zugabe noch länger zu strapazieren. Erwartungsgemäß gab es keinen Widerspruch, woraufhin das London Symphony Orchestra Gabriel Faurés Pavane op. 50 in stolzer Melancholie und seidigen Pastelltönen durch den Saal schweben ließ.
Vorangegangen waren zwei Stücke, die sich in Stil und Haltung denkbar fern stehen. Bertolt Brechts und Kurt Weills Ballett mit Gesang „Die sieben Todsünden“ ist tönende Kapitalismus-Kritik, in ein federndes, vom Jazz inspiriertes musikalisches Gewand verpackt.
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Um das familiäre Eigenheim in Louisiana zu finanzieren, verbringt Tochter Anna sieben Jahre in den Städten, tanzt, prostituiert sich, „zeigt ihren kleinen weißen Hintern“. Am Ende steht ein schmuckes Häuschen da – aber bei Anna sind Glaube, Liebe und Hoffnung rettungslos dahin.
Neben Diseusen und Rockdiven von Lotte Lenya bis Marianne Faithful sind immer wieder auch Sängerinnen des klassischen Fachs in die Rolle geschlüpft, die von den Autoren in ein gleichsam siamesisch verbundenes Schwesternpaar aufgespalten wurde.
Wie die große Lied- und Barock-Interpretin Magdalena Kožená, Sir Simons Ehefrau, die schillernde Figur anlegte, darüber kann hier leider nicht berichtet werden. Ein Rettungseinsatz im U-Bahnhof Appellhofplatz hatte die nachfolgenden Bahnen eine Dreiviertelstunde lang im Tunnel festgesetzt – und damit auch den Rezensenten, der den Konzertbeginn dort verstreichen sah.
Spiel der Linien und Gedanken
Großes ist dagegen vom zweiten Teil des Abends zu vermelden, der Robert Schumanns zweiter Sinfonie gewidmet war. Rattle legte sie im Grunde ganz klassisch an, wobei die relativ kleine Orchesterbesetzung für eine ausgewogene Balance zwischen Bläsern und Streichern sorgte.
Den pastosen romantischen Mischklang drängte der Dirigent zugunsten eines luziden Spiels der Linien und Gedanken zurück. Die prägnant gesetzten Punktierungen im Kopfsatz, zunächst als Ausdruck vitaler Energie hörbar, schlugen fast unmerklich ins Zwanghafte um.
Gelungene Kommunikation
Das Scherzo, das immer ein wenig wie eine orchestrierte Klavieretüde klingt, war mit einer Flexibilität im Tempo geformt, die man schon fast preziös hätte nennen müssen, wäre sie nicht so organisch aus der Musik selbst hervorgewachsen. Dass Rattle die Partitur in- und auswendig kennt, muss kaum betont werden, aber diese Souveränität war auch die Voraussetzung für eine engmaschige, nirgends autoritär wirkende Kommunikation mit seinen Musikern.
Im Adagio schlug die Stunde der hinreißenden Londoner Bläser, deren Soli der Maestro generösen Raum zur Entfaltung gab, ohne den starken inneren Sog der Musik zu bremsen. Das tastende Pianissimo der Streicher-Durchführung ließ Rattle an der Schwelle der Hörbarkeit, des Auseinanderfallens musizieren – das Bild einer inneren Dissoziation, die bei Schumann immer Kunstausdruck und Krankheitssymptom zugleich ist.
Zwischen Triumph und Aufschrei schließlich schwankten die mit äußerster Schärfe artikulierten Trompeten-Fanfaren im Finale–eine grandiose musikalische Charakterkunst, für die man den Londoner Gästen denn auch stehende Ovationen bereitete.