Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, sagt der Volksmund. Immanuel Kant formuliert in seiner „Kritik der Urteilskraft“ anspruchsvoller: „Rednerkunst ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (...), gar keiner Achtung würdig.“ Der Affekt gegen die Rede speist sich indes hier und dort womöglich aus ähnlichen Quellen: dem Misstrauen gegen ein Metier, in dem Menschen Fähigkeiten, die andere nicht haben, einsetzen, um ebendiese zu manipulieren oder auch schlicht übers Ohr zu hauen.
Ein Strom der Kritik also begleitet die Geschichte der rhetorisch ausgeformten öffentlichen Rede mehr oder weniger bis heute – wobei sich die Feinde, indem sie den Angriff ihrerseits mit rhetorischen Mitteln betreiben, oft genug in einen Selbstwiderspruch begeben. Auf der anderen Seite wird – etwa mit Blick auf aktuelle parlamentarische Debatten – bedauernd ein Verfall jener Redekunst festgestellt, die viele nach wie vor für einen Ausweis entwickelter demokratischer Kultur halten. Wie nun?
Karl-Heinz Göttert, emeritierter Altgermanist der Kölner Universität, beleuchtet in seinem neuen Buch „Mythos Redemacht“ – es war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – instruktiv solche Fragen und Probleme und kommt im Wesentlichen zu diesem Ergebnis: Die Redekunst vermag durchaus die aus verschiedenen Richtungen angestimmten Grabgesänge zu überdauern. Mag die Rhetorik als Gegenstand eines Studiums (etwa im Rahmen der Sieben Freien Künste) und von Lehrbüchern ausgedient haben – die rhetorisch geschliffene Rede lebt auch in mediokratischen und Talkshow-fixierten Zeiten kraftvoll weiter. Als Beispiel nennt er die einschlägige Begabung des US-Präsidenten Barack Obama.
Denn darum geht es Göttert, wenn er sein Buch „Eine andere Geschichte der Rhetorik“ nennt: nicht um Rhetorik im Sinne einer Anleitung zum guten Reden, sondern um die Rede selbst, dargestellt anhand einer Fülle von Praxisbeispielen von der Antike bis zur Gegenwart. Kenntnisreich werden sie eingebettet in den jeweiligen historischen Kontext.
Vorab freilich steuert Göttert – stets in einem kommunikativ-leserfreundlichen Stil – einiges zur Theorie bei. Was passiert eigentlich, wenn jemand vor größerem oder großem Publikum eine Rede hält – sei es in der Kirche (dann heißt die Rede üblicherweise Predigt), vor Gericht, auf dem Marktplatz oder im Parlament? Göttert konstatiert, dass in diesem Fall beide einen „Vertrag über die Anerkennung einer geminderten Form von Rationalität“ schließen. Das heißt: Der rational-argumentative Teil der Rede wird durch Dinge flankiert, gestützt und im Extremfall sogar ersetzt, die mit ihm im strengen Sinn nichts zu tun haben: durch die „überredende“ Wucht der Persönlichkeit und eben der sprachlichen Inszenierung – mittels Pointen, Bilderschmuck und auch scheinargumentativer Tricks. Das unterscheidet die Rede tatsächlich vom wissenschaftlichen Vortrag, das macht sie zur Kunst. Kunst statt Diskurs.
Solche Kunst ist, daran lässt der Autor keinen Zweifel, moralisch neutral, kann zu legitimen wie verwerflichen Zwecken eingesetzt werden. Als Beispiel für einen legitimen Zweck analysiert Göttert Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende am 8. Mai 1985, als Beispiel für einen verwerflichen Hitlers Verteidigungsrede im Hochverratsprozess nach dem gescheiterten Putsch vom 9. November 1923. „»Weltfriede!« Ja, Weltfriede auf unseren Leichenfeldern! »Abrüstung!« Ja, Abrüstung von Deutschland zu seiner leichteren Ausplünderung! »Selbstbestimmungsrecht!« Ja, Selbstbestimmungsrecht für jeden Negerstamm!“ Das alles mag widerlich sein, aber der Dreitakt der aufgeführten Beispiele und die gezielte parallele Antithesenbildung weisen Hitler – Göttert sagt es spürbar ungern – als einen guten, als einen mit allen Wassern der Rhetorik gewaschenen Redner aus. Auch der Demagoge und gerade er kann auf diesem Feld brillieren.
Göttert lässt am Leser keinen ermüdenden chronologischen Gänsemarsch bedeutender Reden vorüberziehen, sondern greift zu Plutarchs Methode der Paarbildung unter Ähnlichkeitsaspekten. Da wird Perikles mit Weizsäcker konfrontiert, Gorgias mit Martin Luther King, Cicero mit Joschka Fischer, Augustinus mit Bismarck, Robespierre mit Lassalle. Das wirkt mitunter etwas zwanghaft, auch willkürlich und beliebig, öffnet im besten Fall aber auch den Blick für ähnliche Konstellationen über den Abstand der Zeiten hinweg. Die Menschen, sie bleiben einander irgendwie immer gleich.
Suggeriert Göttert, insofern er die griechische und römische Antike zu einem starken Standbein seiner Darstellung macht, die Affinität großer Rede zu Demokratie und Republik? In der Tendenz wohl schon, aber nicht unbedingt, denn das Beispiel Hitler macht eben deutlich, dass die Entfaltung von Redekunst nicht in jedem Fall eine freie Gesellschaft zur Bedingung haben muss. Vielleicht hätte der Verfasser in diesem Sinne noch ein Beispiel für eine Oppositionsrede in der Diktatur – etwa Franz von Papens Marburger Rede von 1934 – aufgreifen können.
Es geht Göttert nicht einfach um Redekunst, sondern um europäische Redekunst (in deren Tradition er Kennedy und Obama eben auch sieht). Dass andere Kulturen es (dies gehört zu den wertvollen Erkenntnissen des Buches) in Sachen Rede ganz anders halten, zeigt die Klageansprache des Indianerhäuptlings Seattle vor dem US-Präsidenten im Jahre 1855. Er spricht, um seine Würde zu wahren, nicht, wie der europäische Redner, um ein Ziel zu erreichen. Das mindert nicht ihren Rang – Göttert findet ihre Umstände mit Recht „zum Heulen“.