AboAbonnieren

„Ach, jetzt werden wir sexistisch!“ARD-Talk „Hart aber fair“ eskaliert schon nach Minuten

Lesezeit 6 Minuten
Louis Klamroth diskutiert bei „Hart aber fair“ mit Enissa Amani.

Moderator Louis Klamroth (l) diskutiert bei „Hart aber fair“ mit Enissa Amani.

Verteidigung oder Vergeltung? Nach neun Monaten Nahost-Konflikt keine Beruhigung. „Hart aber fair“ zeigte die tiefe Spaltung der Lager.

Bei einem Angriff Israels auf ein Schulgebäude in Gaza-Stadt sollen palästinensischen Angaben zufolge am Wochenende mindestens 80 Menschen getötet worden sein. Israel hingegen spricht von 30 Terroristen, die ums Leben gekommen sind.

„Ist das, was Israel macht, verhältnismäßig“, wollte Louis Klamroth von Julia Klöckner zum Einstieg in den zweiten „Hart aber fair“-Talk nach der Sommerpause wissen. Das Thema der Sendung: „Krieg in Nahost, Hass und Proteste bei uns: Wie weit geht die Solidarität mit Israel?“

„Die Frage der Verhältnismäßigkeit lässt sich nicht mit Menschenleben aufrechnen“, wich die CDU-Bundestagsabgeordnete, Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), aus. Israel hätte das Recht, sich zu verteidigen: „Israel nutzt Waffen, um die eigene Bevölkerung zu schützen. Die Hamas nutzt die Bevölkerung, um Waffen zu schützen“.

Alles zum Thema Hart aber fair

„Ich kann keinem Wort zustimmen“, kam prompt der Konter von Enissa Amani. Nur, dass jedes Land ein Verteidigungsrecht hätte, wäre richtig. „Alles andere ist wahnsinnig de-railant“, also käme vom Gleis ab, musste die iranisch-deutsche Künstlerin und Aktivistin ihre Aussage für Klamroth übersetzen.

Viel mehr durfte sie nicht sagen, da fiel ihr schon Philipp Peyman Engel (Chefredakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“) ins Wort: „Sie gehen der Hamas-Propaganda auf den Leim“, kritisierte er.

Enissa Amani liest Politiker-Zitat selbst vom Prompter ab

Der Journalist hatte sich mit der Falschen angelegt: „Darf ich bitte zu Ende sprechen, ich habe gerade erst begonnen“, ließ sich Amani weitere Unterbrechungsversuche nicht gefallen. Er würde Zahlen einer Regierung teils verurteilter Rechtsfaschisten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Joel Smotrich übernehmen. Letzterer würde es „gerechtfertigt und moralisch vertretbar“ finden, „zwei Millionen Zivilisten verhungern“ zu lassen – ließ es sich Amani nicht nehmen, das Zitat selbst vom Prompter abzulesen.

Louis Klamroth und seine Gäste.

Louis Klamroth wollte mit seinen Gästen über den Krieg in Gaza reden – das gelang nicht immer auf gesittete Weise.

„Die Aussagen der beiden Minister haben mit zionistischen Werten nichts zu tun. Sie sind jenseits von Gut und Böse“, wollte Peyman Engel nicht missverstanden werden (Amani: „Wunderbar“) und ergänzte: „Wir waren aber bei einem anderen Thema: bei den Zahlen der Terrororganisation Hamas.“

Aussprechen durfte er nicht. „Sie haben mich auch unterbrochen“, rechtfertigte Amani ihren Einwurf und verwies einen „wunderbaren deutschen Podcast“. Dort würde belegt, dass die Zahlen „der ekelhaften Terrororganisation“ Hamas nur im minimalen Prozentbereich abwichen.

„Das sagen meine Kinder auch, aber die sind ein bisschen jünger als Sie“

„Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Krieg gerechtfertigt ist“, beharrte Peyman Engel auf dem Verteidigungsrecht Israels, „was nicht bedeutet, dass dieser Krieg immer gerecht ist.“ – „Dem widerspreche ich nicht“, konnte es Amani nicht lassen. Diesmal behielt der Journalist die Oberhand: „Jetzt lassen Sie mich ausreden, dann lasse ich Sie ausreden – sonst kommen wir nicht weiter.“ Dieser Vorschlag stieß auf taube Ohren: „Sie haben damit angefangen, Herr Engel“, trotzte Amani.

Aktivistin Enissa Amani

„Sie haben mich auch unterbrochen“: Aktivistin und Komikerin Enissa Amani zeigte sich bei „Hart aber fair“ wie immer sehr streitlustig.

„Das sagen meine Kinder auch, aber die sind ein bisschen jünger als Sie“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Peyman Engel. „Ach, jetzt werden wir sexistisch“, nahm ihm Amani diese Ausage sichtlich übel. „Nö, gar nicht“, wies das der Journalist von sich.

Es war höchste Zeit einzuschreiten, wie Moderator Klamroth fand: „Wir sind am Anfang der Sendung, wir haben noch ein bisschen Zeit“, unterbrach er das Gefecht, um endlich andere Gäste der Talk-Show zu Wort kommen zu lassen.

Soziologe Jules El-Khatib: „Bei mir in der Familie wurden 15 Menschen getötet in diesem Krieg“

Einer davon war der Soziologe Jules El-Khatib: „Für mich ist das keine Diskussion um Zahlen, bei mir in der Familie wurden 15 Menschen getötet in diesem Krieg“, schilderte der Deutsch-Israeli mit palästinensischen Wurzeln „reales Leid“. Jeden Tag würden israelische Soldatinnen und Soldaten Videos posten, „wie sie Häuser in die Luft sprengen, statt Geiseln zu suchen und sich lustig machen über palästinensische Frauen ... das ist keine Verteidigung“, stellte er klar.

Daniel Gerlach

„Natürlich ist das nicht verhältnismäßig“, sagte Journalist Daniel Gerlach über Israels Krieg in Gaza.

„Natürlich ist das nicht verhältnismäßig“, ergänzte Daniel Gerlach (Nahost-Experte und Chefredakteur „Zenith“) und beantwortete damit Klamroth's Einstiegsfrage, die Klöckner gekonnt umgangen hatte, „weil es nicht der Plan war, verhältnismäßig zu reagieren.“ Israel sei es „von Anfang an“ darum gegangen, „dass ein Exempel statuiert wird“. Im Land selbst würde niemand absprechen, dass es sich um Vergeltung handele.

„Ist es nicht!“, widersprach Peyman Engel und warf seinem Journalisten-Kollegen ebenfalls vor, „die Propaganda der Hamas widergekäut zu haben.“ Für ihn stehe „glasklar“ fest, dass sich Israel ans Völkerrecht halte. („Sie lachen“ – meinte er mit Blick auf Jules El-Khatib – „das steht Ihnen frei.“). Wenn die Hamas, der Iran und andere arabische Staaten Israel auslöschen wollten, wäre das ernst gemeint. Dass angesichts dieser existenziellen Bedrohungen „ein Verteidigungskrieg gerechtfertigt ist, ist klar“, stand für ihn fest.

Lamya Kaddor (Bündnis 90/Die Grünen): „Die Staatsräson gilt nicht für jede israelische Regierung“

„In der Zahlendiskussion kommen wir nicht weiter“, musste Louis Klamroth zur Halbzeit der Sendung anerkennen. Er lenkte das Thema auf eine Aussage, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftaucht: Was meinen wir, wenn wir – wie erstmals Angela Merkel vor 16 Jahren – sagen, die „Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“?

„Es ist ein schöner Satz“, gab Peyman Engel zu, „bis heute rätseln wir, was er bedeutet.“ Wäre er ernst gemein, müsste die Bundesregierung Israel militärisch unterstützen. Doch abseits von Bekenntnissen gegen Anti-Semitismus käme nichts, bezeichnete er die Aussage als „bigott und verlogen“.

Lamya Kaddor (Bündnis 90/Die Grünen) versuchte einzuordnen: „Die Staatsräson gilt dauerhaft und immer für die Existenz Israels, sie gilt aber nicht für jede israelische Regierung“, betonte die Innenpolitikerin im Bundestag, und erst recht nicht, wenn „der Rechtsstaat Israel palästinensische Rechte mit Füßen tritt“.

Das nachfolgende Stimmengewirr auf dem Podium ging im Applaus des Publikums unter.

„Ich lade alle ein, gemeinsam für Waffenstillstand auf die Straße zu gehen“

„Selbstverständlich ist die Konsquenz des Holocausts, die Existenz Israels zu unterstützen. Es ist aber nicht logische Konsequenz, die Regierung (Benjamin) Netanjahus zu unterstützen“, forderte Jules El-Khatib eine Einstellung aller Waffenlieferungen sowie von Teilen für Waffen. Wer Sicherheit für alle Menschen im Nahen Osten wolle, könne keine Regierung unterstützen, die nicht auf ihr Volk hört. Schließlich wären nicht nur alle palästinensischen Organisationen, sondern auch 60 Prozent der israelischen Bevölkerung für einen Waffenstillstand. Diese müsste man unterstützen und Druck machen. „Ich lade alle ein, gemeinsam für Waffenstillstand auf die Straße zu gehen“, brachte er die Diskussion zurück nach Deutschland.

Vom „israelfeindlichen und antisemitischen Ausnahmezustand“, den Philipp Peyman Engel seit dem 7. Oktober bei den Demonstrationen in Berlin erlebte, wollte der Soziologe nichts wissen (El-Khatib: „Ich wohne nicht in Berlin“). Allerdings würde sich die deutsche Politik kaum für Palästinenser interessieren, kritisierte er. Außerdem hätte Deutschland keine Kinder aus Gaza aufgenommen. „Wir bekommen keine Solidarität, wenn unsere Angehörigen sterben“, klagte er. (tsch)