Der Kölner Völkerrechtler Claus Kreß erklärt die Tragweite des Rechtsgutachtens, das der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag zum israelischen Besatzungsregime in den Palästinensergebieten veröffentlicht hat.
Kölner Völkerrechtler KreßPaukenschlag aus Den Haag ist Schlag für Israel
Die militärische Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten (Ost-Jerusalem, Westjordanland und Gaza-Streifen) ist völkerrechtswidrig, und Israel muss diese Präsenz so schnell wie möglich beenden. So lauten die zwei bedeutsamsten Feststellungen in dem mit Hochspannung erwarteten Rechtsgutachten zum Nahostkonflikt, das der Internationale Gerichtshof (IGH) am vergangenen Freitag auf Ersuchen der UN-Generalversammlung vorgelegt hat.
Im Vorfeld dieser beiden zentralen Rechtsaussagen legt der Gerichtshof Israel zur Last, das Völkerrecht der militärischen Besetzung durch sein Verhalten in den seit 1967 militärisch besetzten palästinensischen Gebieten in vielerlei Hinsicht systematisch verletzt zu haben. Im Zentrum dieses Verdikts steht Israels langjährige und zuletzt nochmals forcierte Siedlungspolitik nebst ihren Begleiterscheinungen: Enteignungen und Vertreibungen von Palästinensern, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen auf Kosten der Palästinenser sowie geduldete Siedlergewalt.
In der Gesamtschau wertet der Gerichtshof Israels Verhalten als Versuch, neben Ost-Jerusalem auch das Westjordanland über eine bloß zeitweise militärische Besetzung hinaus dauerhaft unter seine Kontrolle zu bringen. Damit verstoße Israel auch gegen das Verbot der gewaltsamen Aneignung fremden Gebiets. Zugleich verletze Israel hiermit das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes.
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Mit seinen weitreichenden Feststellungen ist der IGH als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen den Hoffnungen derjenigen Staaten sehr nah gekommen, die die Gutachtenbitte an den Gerichtshof gerichtet hatten. Das Gericht hat nur drei weiterreichende Feststellungen nicht getroffen, die sich der eine oder andere Kritiker Israels womöglich noch gewünscht hätte: Israel wird nicht zu einer „sofortigen und bedingungslosen“ Beendigung seiner militärischen Präsenz in den Palästinensergebieten aufgerufen. Israels Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung und die gleichzeitige Privilegierung der israelischen Siedler werden zwar als menschenrechtswidrig, nicht aber ausdrücklich als Apartheid eingestuft. Und nicht zuletzt bleibt die Frage der Staatlichkeit Palästinas im Sinn des Völkerrechts offen.
Dass der IGH die Überzeugung äußert, Israel habe durch seine Siedlungspolitik über einen inzwischen langen Zeitraum hinweg das Völkerrecht der militärischen Besetzung und überdies das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes systematisch verletzt, stellt keine Überraschung dar. Bereits 2004 hatte das Gericht die Weichen entsprechend gestellt, als es Israels Bau einer Grenzmauer in den palästinensischen Gebieten in einem Rechtsgutachten als völkerrechtswidrig einstufte. Das jetzige Gutachten liest sich in den entsprechenden Passagen im Kern wie das frühere, nur in einem deutlich vergrößerten Maßstab, weil die israelischen Praktiken aufgrund der weiter gehenden Fragestellung der Generalversammlung nun umfassend in den Blick zu nehmen waren.
Insoweit vermitteln die zahlreichen im Rahmen der Vereinten Nationen entstandenen Berichte, die der Gerichtshof zurate gezogen hat, ein verstörendes Gesamtbild israelischer Völkerrechtsferne. Dabei macht es die Dinge nur schlimmer, dass sämtliche Regierungen Israels das Rechtsgutachten von 2004 ignoriert haben und die amtierende Regierung Netanjahu den völkerrechtswidrigen Kurs des Landes nochmals zugespitzt hat. Hiernach ist es folgerichtig, dass das Gericht den 2004 nur als möglich angedeuteten Schritt nun vollzogen und Israels Politik in Ost-Jerusalem und im Westjordanland als gewaltsame Aneignung fremden Gebiets eingestuft hat.
Bis zu diesem Punkt steht die Entscheidung des Gerichtshofs auf festem völkerrechtlichem Grund, und sie wird mit Ausnahme der ugandischen Vizepräsidentin von allen anderen Mitgliedern des 15-köpfigen Gerichts getragen.
Deutlich komplizierter liegen die Dinge beim Paukenschlag des Gutachtens: der Erklärung, dass Israels militärische Präsenz in den Palästinensergebieten insgesamt rechtswidrig geworden sei. Denn dies impliziert, dass diese Präsenz gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot verstößt und jedenfalls heute nicht mehr unter Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht Israels gerechtfertigt werden kann.
Leider lässt das Gutachten an dieser Stelle eine eindrucksvolle Begründung vermissen. Dies ist umso misslicher, als vier Richter der Feststellung widersprechen. Ob sich – nicht zuletzt deshalb – zu diesem überaus heiklen Punkt richterliche Zurückhaltung empfohlen hätte, ist im Hinblick auf Ost-Jerusalem und das Westjordanland eine höchst schwierig zu beantwortende Frage.
Doch jedenfalls im Hinblick auf den Gaza-Streifen hätte der Gerichtshof darauf verzichten sollen, Israels Militärpräsenz für rechtswidrig zu erklären. Denn aus diesem Gebiet hatte Israel seine Truppen 2005 vollständig zurückgezogen, und zur dort laufenden israelischen Militäroperation in Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat der IGH seinem ausdrücklichen Bekenntnis nach – und zu Recht – in dem aktuellen Gutachten nicht Stellung nehmen wollen.
Dass der Gerichtshof die von ihm angenommene Pflicht Israels zur Beendigung seiner militärischen Präsenz in den Palästinensergebieten anstelle der unmissverständlichen Wendung „sofort und bedingungslos“ mit dem offeneren Zusatz „so schnell wie möglich“ versieht, mag den Eindruck fehlenden Muts zu eigener Courage erwecken.
Doch hält der Gerichtshof damit ein Fenster für eine Verhandlungslösung offen, die auch Israels Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Wie groß dieses Fenster nach dem Gutachten bleibt, ist allerdings unklar, zumal das Gericht davon abgesehen hat, Israel und Palästina zur Wiederaufnahme von Verhandlungen aufzufordern. Stattdessen sieht der Gerichtshof die Generalversammlung und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Verantwortung, sich mit den „präzisen Modalitäten“ der Beendigung von Israels Militärpräsenz zu beschäftigen, so wie er die Vereinten Nationen im Ganzen dringend gefordert sieht, ihre Bemühungen „zu verdoppeln“, den Nahostkonflikt zu lösen.
Das höchste Weltgericht empfiehlt der internationalen Politik nach alldem, den Akzent von der bislang im Vordergrund stehenden Suche nach einer politischen Lösung im Rahmen des Rechts zu einem verstärkten Einsatz der Politik für die Durchsetzung des Rechts zu verschieben. Ob die so verstandene Losung von „Frieden durch Recht“ aufgehen wird, muss – ungeachtet der beinahe reflexhaften Zurückweisung des Gutachtens durch Israels Regierung – die Zukunft erweisen. Für verlässliche Vorhersagen ist der Nahostkonflikt zu komplex.
Der Autor
Claus Kreß, geb. 1966, ist Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität zu Köln. Er leitet das dortige Institut für Friedenssicherungsrecht und ist Ad-hoc-Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.