Köln – Bei „Hart aber fair“ lautete das Thema am Montagabend einmal nicht Corona, sondern „Arm trotz Arbeit – wird sozialer Aufstieg zum leeren Versprechen?“ Was über Jahrzehnte in Deutschland gut funktionierte, ist inzwischen nicht mehr haltbar: Dass es einer Generation jeweils wirtschaftlich und sozial besser geht als der Elterngeneration. Gerade in den unteren Einkommensbereichen ist es so, dass die Menschen oft sogar weniger Geld zur Verfügung haben als die Eltern, obwohl sie hart arbeiten. Von den nach 1980 Geborenen verdient nur noch die Hälfte mehr als ihre Eltern, so eine aktuelle Studie. So hat sich auch die Zahl der Multijobber seit 2003 verdoppelt, weil eine Arbeit allein nicht mehr ausreicht.
Zu Gast ist die alleinerziehende Mutter Djamila Kordus, die als Lageristin 10,64 Euro in der Stunde verdient und ihre Tochter bis zu zehn Stunden am Tag betreuen lassen muss, um überhaupt arbeiten zu können. 500 Euro bleiben ihr nach Abzug aller Fixkosten zum Leben. „Onlinehandel boomt. Haben Sie davon etwas abbekommen?“ will Plasberg von Kordus wissen, die bei einem großen Versandhändler beschäftigt ist. Ihr Arbeitgeber sei ihr bei der Kinderbetreuung entgegengekommen, so Kordus. Mehr Geld hat sie aber nicht bekommen. Obwohl sie ausgebildete Einzelhandelskauffrau ist, findet sie keinen besser bezahlten Job.
Journalistin Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class“ Menschen begleitet, die wenig verdienen und kaum Hoffnung haben, dass sie ihre Situation aus eigener Kraft verbessern können. Sie nennt als Bespiel ein Paar, das hoch qualifiziert und als Musikschullehrer tätig ist: 110 Musikschüler in der Woche würden die beiden betreuen. Allerdings hätten die beiden keine soziale Absicherung, weil sie selbstständig seien und nie Rücklagen bilden konnten. Im Normalfall würde das funktionieren, aber in der Pandemie fielen die Einnahmen weg und es kam sofort zur Krise.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil fordert eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Seit 2015 gibt es den Mindestlohn, aber dieser reiche nicht, weil er im Vergleich zu den übrigen Kosten nicht stark genug gestiegen sei. Außerdem setzt er sich für eine Reform der Erbschaftssteuer ein.
Unternehmer Arndt Kirchhoff aus Attendorn, der 13.000 Menschen beschäftigt, sieht in den Mindestlöhnen einen gefährlichen Eingriff der Politik in die Tarifautonomie. Sein Rezept: Die Wirtschaft müsse einfach nur wachsen, dann könne auch mehr verteilt werden.
Die Bremer FDP-Politikerin und Unternehmenserbin Lencke Wischhusen wird von Hubertus Heil unbeirrt mit ihrem früheren Ehenamen als „Frau Steiner“ angesprochen, was sie ihm aber nicht übel nimmt. Von höheren Mindestlöhnen hält sie dennoch nichts und empfiehlt stattdessen geringere Steuern.
Wenig Respekt für Kordus und ihre Lebensumstände
Der Sauerländer Kirchhoff hat einen ungeschickten Einstieg in die Diskussion: Er findet nach dem Einspieler über den Tagesablauf von Djamila Kordus, dass diese ihr Kind zu einer „unchristlichen Zeit“ um fünf Uhr morgens wecke. Auf die Zwangslage, in der sich die Lageristin befindet, und unter der natürlich auch ihre Tochter leidet, muss er erst von Plasberg hingewiesen werden.
Lencke Wischhusen trägt wenig Gehaltvolles zur Diskussion bei und empfiehlt Kordus, sich einen mittelständischen Arbeitgeber zu suchen. Da seien die Löhne besser. Leider wohnt Kordus nicht im Sauerland, sondern in Berlin, da gibt es einfach nicht so viele Mittelständler. Wischhusen hat als zweites Patentrezept niedrigere Steuern. Dann plaudert die Unternehmerin über ihr eigenes Familienleben: Ihrer kleinen Tochter sage sie jeden Abend, sie könne alles erreichen, was sie nur wolle. Das alles muss in den Ohren von Djamila Kordus unwissend bis sogar zynisch klingen. Zu hohe Steuern sind nicht ihr Problem, dazu verdient sie einfach zu wenig. Und ihrem eigenen Kind wird sie Aufstiegsträumereien sicherlich nicht ins Ohr säuseln, bevor sie abends völlig erschöpft ins Bett fällt.
Julia Friedrichs weist genau auf dieses Problem hin: Trotz individueller Anstrengung sei es für viele eben nicht mehr möglich, Vermögen aufzubauen. Herkunft, teilweise auch in Form von Erbe, entscheide inzwischen viel zu oft über den weiteren Lebensweg, nicht die Arbeitsleistung.
Heil pflichtet ihr bei. Zu den Aufstiegschancen sagt er: „Jeder ist seines Glückes Schmied, funktioniert nicht mehr.“ Das lasse sich nicht allein an der Bildung festmachen, denn viele Beispiele zeigten, dass auch mit einer ordentlichen Ausbildung das Aufstiegsversprechen nicht eingelöst werden könne. Weiterbildung sei nicht alles, das sei für viele nicht realistisch. Und man brauche einfach auch Menschen, die Reinigungsarbeiten durchführten oder in der Pflege arbeiteten. „Wir brauchen nicht nur Häuptlinge, sondern auch viele Indianer", bringt es der Arbeitsminister auf den Punkt.
Frauenfeindlicher Spruch von Kirchhoff
Unternehmer Kirchhoff versucht, das Thema höhere Löhne zu umschiffen und einen Nebenschauplatz zu eröffnen – allerdings wieder reichlich unbeholfen. Die Rolle der Frau habe sich ja verändert. „Wir tragen Frauen gerne auf den Armen", so Kirchhoff, aber heutzutage wollten diese ja auch arbeiten. Das System der Kinderbetreuung müsste beispielsweise flexibler werden, findet Kirchhoff und lobt seine eigenen Betriebskindergärten. „Sie sind ein unternehmerisches Bullerbü in Attendorn im Sauerland", holt ihn Plasberg auf den Teppich zurück. Kinderbetreuung sei außerdem kein Ersatz für bessere Löhne, erinnert ihn Heil an seine unternehmerische Verantwortung: „Aus der Lohnfrage kommen wir nicht raus“.
Kirchhoff verweist auf die verfassungsmäßig festgeschriebene Tarifautonomie. Außerdem verdienten seine Angestellten weit mehr als den gesetzlichen Mindestlohn. Kirchhoff setzt auf Wirtschaftswachstum, denn wenn der Kuchen insgesamt größer werde, dann könne auch mehr verteilt werden. Journalistin Friedrich sagt dazu, der Kuchen sei zwar gewachsen, aber eben nur bei den höheren Einkommen.
Fazit
Schlüssig konnten weder der Unternehmer noch die FDP-Politikerin erklären, was gegen den vom Arbeitsminister geforderten höheren Mindestlohn spricht. Bei dessen Einführung 2015 geriet die Wirtschaftswelt anders als von Unternehmerseite prognostiziert auch nicht aus den Fugen. Für den wortreich erklärten „Respekt“, welcher der hart arbeitenden Djamila Kordus entgegengebracht wurde, kann sich diese auch nichts kaufen. Dass sich etwas ändern muss, wurde besonders an den fundierten Schilderungen von Julia Friedrichs deutlich.