Bei „Hart aber Fair“ ging es am Montag um die Wahlen in der Türkei. Fritz Schramma verteidigte den Bau der Kölner Moschee.
Ehemaliger Kölner OB bei „Hart aber Fair“„Diese Moschee wird auch noch dort stehen, wenn Erdogan nicht mehr da ist“
Es ist amtlich: Keine der beiden Kandidaten der türkischen Präsidentschaftswahl hat die absolute Mehrheit erreicht. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan kam auf 49,5 Prozent, sein Konkurrent Kemal Kilicdaroglu auf 44,9 Prozent. Am 28. Mai findet daher eine Stichwahl statt. Ob es nach 20 Jahren mit Erdogan an der Spitze zu einem Kurswechsel der Türkei kommen wird, bleibt bis dahin offen. Über die Wahl diskutierten die Gäste bei „Hart aber Fair“.
Die Gäste bei „Hart aber Fair“ am 15.05.
- Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Außenpolitiker und stellvertretender Fraktionsvorsitzender
- Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist und Publizist, Korrespondent der Welt, digital zugeschaltet
- Fritz Schramma, ehemaliger Kölner Oberbürgermeister (CDU), der sich für die vom Ditib erbaute Moschee in Köln einsetzte
- Nalan Sipar, Freie Journalistin, betreibt einen nach ihr benannten YouTube-Kanal für die deutsch-türkische Community
- Ufuk Varol, Erdoganwähler
- Danyal Bayaz, Finanzminister Baden Würtemmberg (Bündnis 90/Die Grünen), digital zugeschaltet
Deniz Yücel bezeichnete es als niederschmetternd, dass Erdogan nach einer „verheerenden Regierungsbilanz“, dem Desaster bei dem Erdbeben und dem Abbau des Rechtsstaates auf so ein gutes Ergebnis gekommen ist. Der Journalist wird über einen Bildschirm an einem freien Platz zugeschaltet, sodass kaum auffällt, dass er nicht physisch anwesend ist. Wiederholt fragt Louis Klamroth, ob er die Stimmen für Erdogan verstehen könne, und immer wieder lautet die Antwort: Nein.
Prognosen für die Stichwahl traut sich keiner der Gäste recht abzugeben. Nalan Sipar analysiert, dass schon in der ersten Wahl viele Faktoren Unsicherheiten schufen. Die Wahlumfragen seien manipuliert gewesen, es habe viele junge Erstwähler gegeben, die man nicht habe einordnen können. Sinan Ogan werde als drittplatzierter Kandidat nun entscheidenden Einfluss darauf nehmen, wem seine Wähler (5,17 Prozent) sich zuneigen. Er kandidierte für die ultranationalistische Ata-Allianz, doch diese habe durchaus auch Schnittmengen mit dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu, der sich stark für die Rückführung syrischer Flüchtlinge aussprach.
Lambsdorff und Yücel betonen, dass die Wahl nicht fair abgelaufen sei
Von der Stimmung im Land berichtet Auslandskorrespondentin Katharina Willinger live aus Ankara: Viele Oppositionelle hätten sich mehr erhofft, stünden geradezu unter Schock. Sie schlägt in die gleiche Kerbe wie Yücel: die Wirtschaftskrise, eine Inflation von mindestens 50Prozent und Folgen des Erdbebens haben Erdogan letztlich weniger geschadet als erwartet.
Das hänge aber auch damit zusammen, dass die Wahl letztlich keine faire gewesen sei. „95 Prozent der Medien in der Türkei gelten als regierungsnah.“ Das werde auch durch die Sendezeit der Kandidaten deutlich. „42 Stunden war er [Erdogan] allein im öffentlich-rechtlichen Fernsehen im letzten Monat auf dem Sender. Zum Vergleich, Kilicdaroglu war dort etwa 38 Minuten zu sehen.“
Auch Lambsdorff betonte die viel stärkere Medienpräsenz Erdogans. Zudem hätten internationale Wahlbeobachter bestätigt, dass in Bezirken, die erwartbar für Kilicdaroglu stimmen würden, die Ergebnisse verzögert wurden, um Prognosen zu geben, die Erdogan begünstigen. Yücel ergänzt später, dass einige Oppositionspolitiker durch Haftstrafen von vorne herein von der Wahl ausgeschlossen gewesen seien. Die Justiz werde als Waffe gegen oppositionelle Politiker genutzt.
Schramma spricht über den Bau der großen Moschee
Die Gäste sprechen auch über den Bau der Kölner Ditib-Moschee. Schramma hatte sich in seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister (CDU) für den Bau eingesetzt, seine Wähler hätten das damals „nicht so dolle“ gefunden. Er sei aber nach wie vor von der „wunderschönen Architektur“ überzeugt. „Wenn der Inhalt stimmt, den man uns damals versprochen hat, nämlich eine offene, transparente Moschee zu sein, für alle Gläubigen, zweisprachig und so weiter, dann kann sie auch ihre Funktion erfüllen.“ Dass Erdogan damals zur Eröffnung kam, missfiel ihm schon damals, aber er wusste sich zu trösten. „Diese Moschee wird auch noch dort stehen, wenn Erdogan nicht mehr da ist.“
Zudem stellte er in den heftigen Diskussionen um den Bau große Vorurteile in der Bevölkerung fest. „Und zwar nicht nur gegenüber Türken, sondern gegenüber Ausländern allgemein.“ Die Ditib-Gemeinde sei für ihn trotz der Kritik der offizielle Ansprechpartner in der Stadt gewesen. „Die haben ihr eigenes Grundstück. Wir haben übrigens die Moschee nicht gebaut, wir haben sie auch nicht finanziert. Das hat die Ditib selbst gemacht, das muss man fairerweise sagen.“
Erdogans frühe Regierungszeit unterscheidet sich stark von der späten
Auch der in Köln geborene Ufuk Varol ist Gast der Sendung. In seiner Familie seien die meisten traditionell CHP-Wähler. Varol selbst habe aber Erdogan gewählt, und begründet das etwa mit der Verbesserung von Frauenrechten und einer insgesamt ordentlichen Regierungsarbeit. Klamroth konfrontiert ihn mit Erdogans Verfehlungen: mangelnde Pressefreiheit, Homophobie. Varols Antwort: Das habe er nie so erlebt. Jeder könne dort sagen, was er will, die Situation mit der Presse könne man nicht mit Deutschland vergleichen, und selbst die kurdische Minderheit hätte noch nie so viele Rechte gehabt wie unter Erdogan. Als Klamroth ihn darauf mit zerbombten kurdischen Gebieten und Verhaftungen konfrontiert, spricht Varol von Terrorismusbekämpfung.
Yücel hält den positiven Entwicklungen zu Erdogans frühen Regierungsjahren die Verfehlungen der Gegenwart entgegen. Was die Kurden angehe, habe Erdogan zu Beginn seiner Regierung durchaus eine Lösung des Konflikts zu seinem großen Thema gemacht. In den letzten Jahren habe er diesen Kurs aber nicht gehalten. „In den kurdischen Gebieten der Türkei wurden zwei Mal fast alle gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abgesetzt, die da mit Ergebnissen von teilweise 60-70 Prozent gewählt werden. Er respektiert den Wählerwillen nur dann, wenn es ihm passt.“
Warum so viele türkischstämmige Menschen in Deutschland für Erdogan stimmten
Warum so viele Deutschtürken für Erdogan stimmten, wird vielfach diskutiert. Fritz Schramm könne sich nicht erklären, wie es Erdogan gelungen sei, vielen in der deutschen Demokratie großgewordenen Deutschtürken zu vermitteln, dass ihre wahre Heimat in der Türkei liege. „Vielleicht haben auch wir als Gesellschaft das eine oder andere falsch gemacht. Vielleicht haben wir nicht respektiert, dass hier Menschen 50 Jahre lang bei Ford am Fließband stehen und arbeiten, ihre Steuern zahlen, mit uns leben und wohnen und unsere Nachbarn sind… und sie doch nicht ganz in unsere Gesellschaft aufgenommen.“
Varol schlägt in eine ähnliche Kerbe. „Wir fühlen uns nach wie vor nicht ganz angenommen.“ Er zeigt sich skeptisch gegenüber der Art, wie die Türkei in Deutschland dargestellt werde.
FDP-Politiker Lambsdorff betont schwere Fehler in der Integration
Lambsdorff betont ebenfalls schwere Fehler in der Integration. Besonders bei der Eröffnung der Moschee in Köln, die als ein offenes Integrationsprojekt angelegt gewesen sei, habe Erdogan signalisiert, dass eine Integration der Türken gar nicht in seinem Sinne sei. Die Moschee habe er dann für sich eingenommen.
Denis Yücel widerspricht der Auffassung, dass die Erklärung für das Wahlverhalten in Rassismuserfahrungen zu finden ist. Er suche die Erklärung ganz allgemein nicht in ihrem Lebensmittelpunkt, sondern beobachte, dass Angehörige bestimmter Milieus ein bestimmtes Wahlverhalten zeigen, ob sie nun im In- oder Ausland leben. „In den USA, wo die türkische Diaspora aus vielen urbanen, gut ausgebildeten Leuten besteht, ist die CHP vorne, so wie in der Türkei auch.“
Daynal Bayaz: „Die Türkei ist nicht Erdogan“
Auch der später zugeschaltete Danyal Bayaz, Finanzminister Baden Würtemmbergs (Bündnis 90/Die Grünen), benennt Rassismus in Deutschland als großes Problem. „Aber das darf doch niemals Grund dafür sein, dass man aus der Demokratie heraus die Autokratie wählt“.
Bayaz muss sich für Videobotschaften seiner Partei rechtfertigen, die sich an die deutsch-türkische Community richtete und durch die Blume eine Wahlempfehlung gegen Erdogan aussprechen. Die fanden die Gäste der Sendung durchweg unangebracht. So auch Deniz Yücel, der an einen vergangenen Appell Erdogans erinnert, nicht CDU, Grüne oder SPD zu wählen, was damals ebenso schlecht angekommen sei. Er kritisiert auch, dass die Bundesregierung trotz aller Kritik an Erdogan sehr fragwürdige Partnerschaften mit der Türkei fortführt.
Bayaz betont, dass die Regierung auf die Türkei angewiesen sei und weiterhin diplomatische Beziehung zum Land pflegen müsse. „Die Türkei ist nicht Erdogan. Das ist etwas, was in der deutschen Berichterstattung leider manchmal zu kurz kommt. Die Türkei ist ein gastfreundliches Land, eine ausgezeichnete Künstlerkultur, Wissenschaftscommunity.“ Das werde auch die Außenministerin so vertreten.