Köln – Das war definitiv keine normale „hart aber fair“-Sendung. Im Zentrum stand am Montagabend kein übliches Talk-Thema, sondern vielmehr ein ganz besonderes TV-Experiment – oder besser: dessen Ausgang.
Die Sendung nämlich baute unter dem Motto „Terror: Abstimmung, Urteil und Diskussion“ auf dem Film „Terror – Ihr Urteil“ auf, der zuvor im Ersten ausgestrahlt wurde. Den darin gezeigten fiktiven Gerichtsprozess hatte der Jurist Ferdinand von Schirach ursprünglich für die Theaterbühne konstruiert. Wie im Theater auch oblag die Entscheidung über den Ausgang der Verhandlung den ARD-Zuschauern: Sie schlüpften vor dem Fernseher in die Rolle der Schöffen. Ihr Urteil fiel ziemlich eindeutig aus.
Darum ging’s im Film
Der Luftwaffenmajor Lars Koch (Florian David Fitz) ist wegen des Mordes in 164 Fällen angeklagt. Er hat eine Passagiermaschine der Lufthansa abgeschossen. Alle Insassen kamen ums Leben. Terroristen hatten das Flugzeug zuvor auf dem Weg von Berlin nach München entführt. Vermeintliches Anschlagsziel: die ausverkaufe Allianz-Arena mit 70.000 Zuschauern. Weil Kochs Vorgesetzte den Befehl dazu nicht gaben, schoss der Angeklagte das Flugzeug eigenmächtig ab.
Die zentrale Frage
Lars Koch tötete 164 Menschen, ja. Aber war es Mord? Darf man einige wenige, also in diesem Fall 164, unschuldige Menschen töten, um viele, hier 70.000, Leben zu retten? Es war eine ziemlich heftige Frage, mit der sich die TV-Zuschauer in ihrer Rolle als Schöffen auseinander setzen mussten. Eine Frage, die extrem forderte – sowohl emotional, als auch intellektuell.
Die Entscheidung der Zuschauer
Verurteilung oder Freispruch, schuldig oder nicht schuldig? Fünf Minuten hatten die Zuschauer nach den Schlussplädoyers der Staatsanwältin und des Verteidigers Zeit, um per Telefon oder online abzustimmen. Als Vorsitzender Richter verkündete Schauspieler Burghart Klaußner schließlich das Urteil im fiktiven Berliner Gerichtssaal: „Der Angeklagte Lars Koch wird auf Kosten der Landeskasse freigesprochen“.
Die TV-Abstimmung fiel eindeutig aus: nur 13,1 Prozent der Teilnehmer waren laut ARD für eine Verurteilung, 86,9 Prozent dagegen und somit für einen Freispruch des Angeklagten. Wie viele Zuschauer teilgenommen hatten, teilte der Sender dabei nicht mit.
Auch in der Österreich und in der Schweiz, wo der Film an diesem Abend ebenfalls gezeigt wurde, entschieden sich die TV-Zuschauer mit eindeutiger Mehrheit dafür, Lars Koch freizusprechen (Österreich: 86,9 für einen Freispruch, 13,1 Prozent für eine Verurteilung. Schweiz: 84 Prozent für den Freispruch, 16 Prozent für die Verurteilung)
Das sagten die Studio-Gäste
Die vier geladenen Studio-Gäste gaben – noch vor der Urteilsverkündung im Gerichtssaal – ihre persönliche Bewertung ab. Im Anschluss diskutierten sie, teils ziemlich lautstark und emotionsgeladen, mit Moderator Frank Plasberg über das Ergebnis der TV-Abstimmung und den wuchtigen Inhalt des Films.
Franz-Josef Jung, CDU-Politiker und ehemaliger Bundesverteidigungsminister, befand Lars Koch für nicht schuldig. Der Staat habe die Aufgabe, Leben zu schützen. Das habe der Pilot getan. Die entscheidende Frage sei in diesem Fall gewesen: „Haben die Menschen im Stadion die Chance, zu überleben?“ Als Verteidigungsminister, so Jung, hätte er die gleiche Entscheidung gefällt und vertreten wie der Pilot im Film. „Ich hätte ihn nicht alleine gelassen.“ Im Übrigen sei es notwendig, bereits im Vorfeld zu klären, ob Piloten der so genannten Alarmrotte bereit seien, im Ernstfall zu schießen.
Thomas Wassmann, ehemaliger Kampfjet-Flieger der Bundeswehr und Vorsitzender des Verbands der Besatzungen strahlgetriebener Kampfflugzeuge der Bundeswehr e.V., entschied ebenfalls, Lars Koch sei nicht schuldig. In einem solchen Fall würde er als Pilot auch schießen, so Wassmann. „Das ist eine sehr extreme Situation. Aber wir müssen doch handlungsfähig bleiben.“ Die Politik lasse die Piloten im Stich. „Die Welt hat sich verändert“ – vielleicht müsse man das Grundgesetz anpassen. Allerdings könne man nicht alles regeln: „Es kommen einfach Situationen, die nicht regelbar sind.“
Gerhart Baum, Rechtsanwalt, FDP-Mitglied und ehemaliger Bundesinnenminister, befand Lars Koch eindeutig als schuldig. „Das war Mord“, sagte er. Das Grundgesetz verbiete es, Menschenleben zu verrechnen. Auch der todgeweihte Mensch sei noch zu schützen: „Die Menschenwürde ist unantastbar.“ Die TV-Zuschauer hätten gegen das Grundgesetz gestimmt, seien aber durch „die Anlage des Stückes“ dazu verleitet worden. Was aber wäre gewesen, fragte Baum, wenn das Flugzeug nicht abgeschossen worden und dann neben dem Stadion gelandet wäre? Trotz Terrorangst: „Wir dürfen die Grundlagen unseres Zusammenlebens deshalb nicht aufgeben.“
Petra Bahr, Theologin und designierte Regionalbischöfin in Hannover, erachtete Koch zwar als schuldig vor dem Gesetz, wollte sich letztlich aber nicht festlegen. „Eigentlich müsste der Pilot verurteilt werden, um unser Grundgesetz zu schützen.“ Die Schuld-Frage sei allerdings teuflisch, denn sie lasse nur die Wahl zwischen falsch und falsch. In einer vergleichbaren Extremsituation nichts zu tun, „würde auch dazu führen, dass man etwas Falsches tut.“ Der Major habe Schuld auf sich genommen, um Menschen zu retten. Die klare Bewertung des Publikums indes sei eine „moralische Intuition“ gewesen.
Fazit
Was für ein Fernseh-Abend. Wenn nach diesem Experiment eines feststeht, dann, dass es mehr als schwer ist, in Fragen, die an den demokratischen Grundfesten einer Gesellschaft rütteln, sauber zwischen Recht und Moral zu trennen. Ob man im TV über eine Schuld oder Nicht-Schuld wie die des angeklagten Luftwaffenmajors Lars Koch abstimmen darf und muss, ist ein Thema für sich. Das Film-Szenario als solches allerdings ist in Zeiten zumindest gefühlt gewachsener Anschlagsgefahr und gesteigerter Terrorangst mehr als aktuell. Letztlich geht es dabei um nichts Geringeres als die Frage, wer wir sind und wie wir leben wollen. Es mag einen erschrecken, wie eindeutig das Urteil zugunsten des Piloten ausfiel. Ein Zuschauer im ARD-Studio, der kurz zu Wort kam, fasste das Dilemma treffend zusammen. Er selbst habe Zivildienst geleistet, um nie eine Waffe bedienen zu müssen. Allerdings: „Wir sitzen alle hier und müssen keine Entscheidungen treffen.“ Im Ernstfall sei er dankbar, dass es Leute gebe, die das tun.