Das Jugendensemble des Kölner Schauspiels erinnert mit „Drahtseilakt/ Cambaz Gösterisi“ an die Arbeitskämpfe der ersten Migrantengeneration.
Import-Export-Kollektiv im Schauspiel KölnAls bei Ford die Gastarbeiter streikten
„Ich weiß nicht, wo ich hingehöre“, sagt Deniz Yılmaz, „aber ich weiß, ich will los.“ Deniz Yılmaz ist viele, fiktive Figur und Summe vieler Erfahrungen. Der Vorname kann männlich oder weiblich gelesen werden, den Nachnamen „Yılmaz“ findet man in der Türkei so häufig wie in Deutschland die Müller-Meier-Schmidts. Genau dahin will Deniz aufbrechen, ins Land der Müller-Meier-Schmidts. Als Gastarbeiter, erste Generation.
Deniz, verrät der kurze Infotext zu „Drahtseilakt/Cambaz Gösterisi“, dem neuen Stück des Import-Export-Kollektivs, ist „Vorbild, Kollege, Verbündete, Freund*in, Mutter oder Großvater“. Und Deniz, m/w/d, ist Teil des Widerstands, Teil der wilden Streiks, mit denen Migrantinnen und Migranten vor 50 Jahren in den Kölner Ford-Werken und beim Neusser Automobilzulieferer Pierburg gegen ausbeuterische Bedingungen und ungleiche Bezahlung kämpften. „Eine Mark mehr!“, skandierten damals die Streikenden. Am Ende wurden es höchstens 65 Pfennig, ein bescheidener Sieg, aber ein Sieg fürs Kollektiv, für das Mit-einer-Stimme-sprechen.
Regisseurin Saliha Shagasi führt das Publikum quer durchs Mülheimer Carlswerk-Gelände
Die Stimme, mit der das Jugendensemble des Kölner Schauspiels hier spricht, setzt sich aus Familienanekdoten, Erzählungen der Großeltern, aus Recherchiertem und auch aus Selbsterlebten zusammen, denn die jungen Import-Exportler haben sich Unterstützung bei der Oldschool, dem Senioren-Ensemble, und beim Ensemble von „Die Lücke“, Nuran David Calis' Stück zum Nagelbombenanschlag auf der Keupstraße, geholt.
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In zwei Gruppen führt Regisseurin Saliha Shagasi das Publikum quer durchs Carlswerk-Gelände, die Geschichte setzt sich nach und nach als Stationendrama aus Gesprochenem und Gerapptem, aus Gedichten und Slogans, kleinen Spielszenen und Choreografien zusammen, und während der kurzen Fußwege setzt sie sich per Kopfhörer fort. Der „Drahtseilakt“, klar, verweist aufs alte Felten & Guilleaume-Gelände, auf die großindustriell geprägt Vergangenheit, auf Fahrdrähte, Freileitungsseile und Starkstromkabel.
Aber selbstredend auch auf das prekäre Leben der ersten Migranten. „Mein Name ist Ausländer/ Meine Arbeit ist schwer/ Meine Arbeit ist schmutzig/ Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft“, skandiert ein Chor in der „Straßenkicker Base“, Lukas Podolskis Mülheimer Indoor-Fußballhalle. Das Publikum sitzt auf der Tribüne hinter dem Tor, der Chor verteilt sich auf den beiden Galerien längs des Feldes, auf dem gerade eine Hobbymannschaft zum Sonntagsausklang kickt. Das Leben spielt mit und schafft ein Bild, in dem schon fast alles drinzustecken scheint, was zu sagen wäre.
Hier wird ein Rolltor hochgeschoben, gibt kurz den Blick frei auf funkensprühendes Arbeitsleben, dann formieren sich die Gastarbeitenden zur wehrhaften Tanztruppe: „Wir sind wütend auf die Reichen, auf euer Fake-Verständnis, auf zwölf Stunden Arbeit ohne Pause.“
Auch ein Seitenhieb auf die Zahnarzttermin-Fantasien von Friedrich Merz bleibt nicht aus
Dort öffnet sich die Tür einer Werkstatt zu einer Gemeinschaftsküche, man knetet gemeinsam Çiğ Köfte und die vier Köche sinnieren dabei laut vor sich hin, es geht um das Gefühl von Heimat, ein Gefühl, dem man sich nie ganz sicher sein kann. Eine ältere Frau erinnert sich an Äpfel aus dem großen Garten der Guilleaumes, an den Vater, der eigentlich zu stolz war, um solche Almosen anzunehmen. Ein junger Mann glaubt, seine wahre Heimat erst am Theater gefunden zu haben – obwohl ihn auch hier immer wieder Blicke verfolgen würden, die zu sagen scheinen: „Was macht der Kanake hier?“
Im Behandlungszimmer einer Zahnarztpraxis auf dem Gelände – es warten sogar noch Patienten – werden wir Zeuge von Anrufen beim Ausländeramt, von der Verachtung, die einem entgegenschlägt, kaum dass man den falschen Namen gesagt hat, Yılmaz statt Müller. Das sei doch in keinem anderen Land der Welt so, klagt eine Frau, dass man dafür bestraft wird, dass man versucht, die Landessprache zu sprechen. Und natürlich bleibt der Seitenhieb auf Friedrich Merz und dessen gehässigen Satz von den Asylbewerbern, die Deutschen die Zahnarzttermine wegnehmen, nicht aus.
Der Spaziergang durchs Carlswerk gerät so beinahe zu einem Passionsweg fortgesetzter Demütigungen – wäre da nicht die ungebrochen positive Energie des Ensembles, alt wie jung, eine Spielwut im buchstäblichen Sinn.
Die Lohnkämpfe der Vorfahren führen zu den unerfüllten Wünschen der dritten und vierten Generation. Die sitzt im weißen Audi und protzt mit ihren vermeintlichen Besitztümern. Wenn du in einer Gesellschaft aufwächst, die dich immer als Mensch zweiter Klasse sieht, erklärt dazu die Rapperin Ebow aus den Lautsprecherboxen, bleibt dir nur, ihnen zu imponieren, um auf gleicher Augenhöhe zu stehen. Daneben laden Menschen, wie von der Regie bestellt, ihre Teslas auf.
Das wahre Sehnsuchtsbild zeigt sich erst, wenn nach knapp zwei Stunden im Depot 2 ein letzter Vorhang fällt: eine Parkidylle, Brettspiele, Tee, Gespräche. Man ist unter sich, kein Drahtseilakt vonnöten.