Jethro Tull trotzen beim Konzert auf dem Kölner Roncalliplatz dem Regen und sind immer noch zu jung zu sterben.
Jethro Tull in KölnEin bisschen Mittelalterfestival zwischen der Götterdämmerung
Es ist auch schon wieder eine Weile her, dass Ian Anderson viele „junge Käuze“ unter den „alten Käuzen“ seines gewohnten Publikums bemerkte. Das war in den nostalgischen 1990ern, dem Jahrzehnt des großen Revivals, und plötzlich war der progressive Rock der zauseligen Siebziger wieder ein Thema für die Jugend. Anderson hatte diese Wiederkehr vorausgesagt: in einem Jethro-Tull-Album mit dem schönen ironischen Titel „Too Old to Rock ’n’ Roll, Too Young to Die“.
Für viele Rock-Mantras war Ian Anderson schlichtweg nicht dumm genug
Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich alt werde – für dieses Rock-Mantra war Jethro-Tull-Frontman Ian Anderson schon immer zu altersweise, waldschratig oder schlichtweg nicht dumm genug gewesen. Und so verzeihen ihm die alten Käuze vor dem Kölner Dom offenkundig gerne, dass er nicht mehr wie Rudolf Nurejew oder wenigstens als Flötenderwisch über die Bühne springt. Einige jugendliche Selbstzitate streut der 75-Jährige auf dem Roncalliplatz aber ein: kein Jethro-Tull-Konzert ohne Storchenschritt oder Kniefall vor abgedankten Göttern.
Pünktlich zum Einlass hatte der Regen eingesetzt und alte und junge Käuze unter Ponchos und Kapuzen in allen gedeckten Regenbogenfarben vereint. Ebenso pünktlich betrat Ian Anderson mit Band die Bühne, ein Troubadour in T-Shirt und offener Weste, der, wie zum Trost für die Begossenen, das Konzert mit „Nothing Is Easy“ begann. Ein frühes Stück aus dem Jahr 1969, die komplexen Stil- und Tempowechsel der klassischen Tull-Alben lassen sich bereits erahnen. Anderson verspricht nicht ohne Stolz Musik aus sieben Jahrzehnten, die wiederum von Blues, Jazz, Klassik bis Folk etliche musikalische Einflüsse vereint. Auf das hardrockige „Sweet Dream“ folgt in Köln „We used to know“, ein Song, wie Anderson anmerkt, der vielen vertraut vorkommen dürfte, schließlich hätten sich die Eagles von ihm einige Akkorde für ihren Welthit „Hotel California“ ausgeliehen.
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Auf die großen „sinfonischen“ Klassiker ließen Jethro Tull das Publikum lange warten
Wer es noch nicht wusste, bekommt von Andersons Begleitband dann den Unterschied zwischen progressivem Rock und einem eingängigen Popsong vorgeführt. Wo die Eagles verführerisch säuseln, bricht Anderson die Harmonien, spielt mit Rhythmus- und Tempowechseln, und die von den Eagles unsterblich gemachten Gitarrenakkorde bleiben Teil eines komplexen Klanggewebes. Jeder Song trägt bei Jethro Tull den Keim einer Moll-Sinfonie in sich – nicht nur Andersons Querflöte machte aus dem alten, einfach gestrickten Rock ein schillerndes Paradox.
Auf die großen „sinfonischen“ Klassiker, „Aqualung“, eine grandiose Melange aus Ballade und Bombast, und natürlich „Locomotive Breath“ mit seinem berühmten Intro aus romantischen, jazzigen und bluesigen Elementen, lässt Anderson das Publikum bis zum Ausklang warten. Stattdessen gibt es vor der Pause „Hammer on Hammer“ vom aktuellen Album „Rökflöte“ (das „Rök“ leiht sich Anderson von Ragnarök, der altnordischen Götterdämmerung) und „Mine Is The Mountain“ von 2022, eine melancholische Ballade über einen allmächtigen Gott, der sich angesichts der irdischen Zustände plötzlich ohnmächtig fühlt. Musikalisch sind diese Alterswerke gedimmte Versionen des alten Jethro-Tull-Sounds, aber ein Meilenstein nach „Holly Herald“ von Jethro Tulls Christmas Album. Anscheinend verwandelt sich Anderson jedes Weihnachten zur Heimorgel-Version seiner selbst.
Gelegentlich wirkt Ian Anderson an diesem verregneten Kölner Abend nicht wie ein Erbverwalter der progressiven Rockmusik, sondern wie der Urvater der Mittelalterfestivals. Nach der eher erleichtert als enthusiastisch umjubelten Bach-Variation „Bourée in e-Moll“ (ein Jethro-Tull-Klassiker seit dem Jahr 1969) läutet er die Verschnaufpause mit der Einladung ein, sich am Souvenirstand einzudecken oder eines der mobilen Toilettenhäuschen aufzusuchen. Da bleibt genug Zeit, um sich zu fragen, ob Anderson nicht schon mal besser bei Stimme war? Bei komplexeren Tonlagen stößt er gut hörbar an Grenzen, doch immerhin geht ihm an der ikonischen Querflöte niemals die Puste aus.
Die zweite Konzerthälfte beginnt im Galopp mit „Heavy Horses“ (1978) vom gleichnamigen Album und wird von Anderson mit „The Navigators“ von „Rökflöte“ wieder etwas eingebremst. Mit „Dark Ages“ geht Ian Andersons Jethro Tull in den Endspurt, nimmt Anlauf für das ostentative „Aqualung“ und lässt sich nicht lange zur Zugabe bitten. „Locomotive Breath“ schickt uns schließlich mit der Gewissheit heim, dass die musikalischen Käuze keine bedrohte Spezies sind. Wer zu alt für Rock ’n‘ Roll ist, ist gerade jung genug fürs kommende Revival.