Köln – Warum Karl Lauterbach gegen eine Impfpflicht ist? „Weil wir dann wirklich von einer Staatsgewalt sprechen, die wir in der Nachkriegszeit in Deutschland noch nicht gesehen haben. Dagegen ist das Eintreiben der GEZ-Gebühren gar nichts.“
Er sei in den vergangenen Monaten sehr vielen Menschen begegnet, erzählte der SPD-Gesundheitsexperte, die eine so panische Angst vor der Impfung hätte, dass sie eher sterben wollten, oder ihn umbringen. „Ich kämpfe gegen Leute, die mich als Hitman einer jüdischen Weltverschwörung sehen.“
100.000 Menschen gerettet
„Vorsicht vs. Risiko? Vom Umgang mit der Pandemie“ war die Runde zur Eröffnung der 9. phil.Cologne in den Ehrenfelder Balloni-Hallen übertitelt und Moderatorin Svenja Flaßpöhler stieg gleich mit der provokanten Frage „Muss die individuelle Freiheit sterben, damit wir leben können?“ in die Diskussion ein. Klar, dass Lauterbach hier als Corona-Hardliner eingeladen war, während ihm gegenüber der Bonner Philosoph Markus Gabriel mehr Eigenverantwortlichkeit forderte: „Der Staat hat in der Krise viel zu sehr die Führung übernommen.“ Die Kritik an der Top-Down-Herangehensweise sei berechtigt, räumte Lauterbach ein. „Aber wir sind damit gut gefahren, haben die halbe Sterblichkeit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten. Die 100.000 Menschen, die wir gerettet haben, waren es wert.“
Doch die Rollenverteilung geriet durcheinander, als es zur Frage der Impfpflicht kam. Während Lauterbach diese, siehe oben, ablehnte, sprach sich Gabriel überraschenderweise dafür aus: „Weil eine Impfpflicht besser ist, als jede mir bekannte erwartbare Alternative für den Herbst.“ Und gab zum Problem der Anwendung staatlicher Gewalt gegen Impfgegner zu bedenken: „Fügen wir dann nicht den anderen 90 Prozent der Bevölkerung Staatsgewalt zu?“ Was Lauterbach verneinte: „Die Einschränkungen sind für sie als Geimpfter doch zum großen Teil aufgehoben.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Auch sonst wurde es ein Schlagabtausch mit viel Verständnis für die jeweils andere Position. Es stritten nicht der Ethiker und der Epidemiologe, sondern zwei Experten, die es verstehen, philosophische Konzepte auf die unmittelbare Wirklichkeit anzuwenden. Und so schraubte sich das Gespräch gelegentlich in nischige Höhen – nur um dann wieder konkret bei Impfaktionen auf dem Wiener Platz zu landen. Lauterbach zitierte Thomas Scanlons Update von Kants kategorischen Imperativs: „Moralisch ist geboten, was kein vernünftiger Mensch ablehnen kann.“
Nach diesem Prinzip des amerikanischen Moralphilosophen hätte die Regierung auch in der Pandemie gehandelt. „So kann zum Beispiel ein Mensch, der durch Corona sehr gefährdet ist, vernünftigerweise verlangen, dass er geschützt wird.“
Quarantäne moralisch verwerflich
Nur, warf Gabriel ein, könne ein sechsjähriges Schulkind, das 14 Tage in Quarantäne muss, vernünftigerweise etwas ganz anderes verlangen. „Dass Kinder trotz negativem PCR-Test so lange nach Hause geschickt werden finde ich moralisch verwerflich.“ „Soll ich ehrlich sein?“, sagte Lauterbach: „Da bin ich sogar derselben Meinung.“ Das blieb die Ausnahme.
Die 2G-Regelung, wie sie in Hamburg praktiziert und von Lauterbach gelobt wird, führt laut Gabriel zur Diskriminierung von Kindern. „Das ist nudging.“ So nennt man das, wenn etwa die Regierung ihre Bürger durch Sanktionen zum richtigen Verhalten bewegen will. Lauterbach widersprach: Es gehe bei der 2G-Regelung nicht um eine Gängelung der Ungeimpften. Von ihnen gehe nun mal objektiv eine viel größere Gefährdung aus als von Geimpften.
Müssen die Menschen also Eigenverantwortung abgeben, wie Lauterbach meint, weil die Komplexität der Lage nicht mehr überschaubar ist? Oder war sie, wie Gabriel glaubt, immer schon komplex? „Es gab vorher nur Filter. Durch Corona ist ganz viel sichtbar geworden. Die Pandemie war für viele ein Wirklichkeitsschock.“