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„Keine Experimente“ von Markus FeldenkirchenEin Abgeordneter taucht ab

Lesezeit 4 Minuten

Der Autor Markus Feldenkirchen (Jahrgang 1975)

Köln – Den Bundestagswahlkreis Olpe/Märkischer Kreis I gibt es tatsächlich. Er wird seit 2009 von dem CDU-Abgeordneten Matthias Heider gehalten, der sich am 22. September zur Wiederwahl stellt. In Markus Feldenkirchens Roman „Keine Experimente“ ist der direkte Wahlkreisvertreter indes sein Parteikollege Frederik Kallenberg, die Hauptfigur. Sind beide vielleicht insgeheim identisch? Das nun doch nicht, denn Kallenberg ist – damit beginnt der Roman – von eben auf jetzt unauffindbar verschwunden, nachdem er auf dem Schreibtisch seines Berliner Büros das Bibelzitat „Alles hat seine Zeit“ hinterlassen hat. Heider hingegen ist nach allem, was man hört, an Deck und bereit, sich in den Bundestagswahlkampf zu stürzen.

Immerhin zeigt die irritierende Konstellation die bemerkenswerte Realitätsnähe des Buches an. Kein Wunder, der Autor, gebürtiger Bergisch Gladbacher des Jahrgangs 1975, arbeitet hauptberuflich als Korrespondent im „Spiegel“-Hauptstadtbüro. Der Roman spielt im Wesentlichen, also abzüglich der Rückblenden, im Sommer 2013, also just zu der Zeit, da er auf den Buchmarkt kommt. Orientierender Fluchtpunkt ist auch im Buch die Bundestagswahl im Herbst. Wer das Buch also jetzt liest, tut dies zur selben Zeit, da sich die in ihm beschriebenen Ereignisse begeben.

Worum geht es? Das plötzliche Verschwinden des Abgeordneten hat, das bekommt der Leser bald spitz, mit einer zerstörerischen Verwirrung seines Lebens zu tun. Frederik Kallenberg, gläubiger Katholik, seit langen Jahren mit seiner Jugendliebe Julia verheiratet und glücklicher Vater zweier Söhne, ist Familienpolitiker aus Leidenschaft und hängt als solcher einem strengen Wertekanon in Sachen Ehe und Familie an. Er ist auch der Initiator eines „Müttergeldes“ – es ist de facto das von der CSU verfochtene „Betreuungsgeld“ –, womit er der „Bundeskanzlerin“ (sie ist in einem Vier-augengespräch mit Kallenberg unschwer als Angela Merkel zu identifizieren) gehörig auf den Zeiger geht.

Zurück ins Paradies

Kallenbergs sittenstrenger Konservatismus erklärt sich aus den Erfahrungen seiner schwierigen Kindheit im katholischen Sauerland: Während der Vater sich in der Ortskneipe zu Tode soff, vergnügte sich die Mutter auf Schützenfesten. Kallenbergs eigenes Leben – ein als solcher gewollter Gegenentwurf zur scheiternden Existenz seiner Eltern. Das geht gut, bis er die attraktive grüne Feministin Liane kennenlernt – und sich wider Erwarten von ihr angezogen fühlt. Es geschieht, was in seinem Weltbild nicht vorgesehen war: Er erliegt der durchaus unalltäglichen Verführungskunst der Dame, und es öffnet sich für ihn ein erotisches Paradies, aus dem er zu Hause im Sauerland längst vertrieben ist.

Doppelmoral, typisch für Konservative, mag man dazu sagen. Wasser predigen und selbst Wein trinken. Kennen wir. Damit machte man es sich allerdings zu einfach, und der Autor tut alles, diesen Schluss, der das Buch zu einem schlichten Thesenroman sinken ließe, zu verhindern. Denn Kallenberg ist keineswegs in der Lage, das neue Doppelleben zynisch zu genießen. Zynisch ist eher die Kanzlerin, die um des Wahlerfolgs willen ihren Parteifreund von seiner vom Wahlvolk nicht goutierten politischen Linie abbringen will.

In dem Wissen, selbst nicht besser zu sein als die verachtete Mutter, leidet und quält sich Kallenberg in eine Desorientierung und Selbstverachtung hinein, aus der er keinen Ausweg mehr zu finden scheint. Ein wenig erinnert er an Max Frischs „Homo Faber“: Unter dem unmittelbaren Andrang des Lebens bricht die sorgsam errichtete Burg der Grundsätze wie ein Kartenhaus zusammen.

Treuherzig und geschwätzig

Feldenkirchen erzählt die Geschichte des Abgeordneten Kallenberg temporeich und mit einem guten dramaturgischen Gespür für fortschreitende Spannungssteigerung herunter – bis zum überraschenden Schluss mit seiner Dichte an sich überschlagenden Ereignissen. Sicher: Der Roman ist keine „große“ Literatur. Dafür ist der Grad an künstlerischer Durchformung zu gering. „Keine Experimente“ weist keine Schatten auf, keine Metaebenen – weil der Autor zum Teil treuherzig-geschwätzig alles erklärt und offenlegt. Dass die Namen „Julia“ und „Liane“ jeweils die letzte und die erste Silbe gemeinsam haben, die eine quasi wie beim Dominospiel an die andere anschließt, ist eine der wenigen Hintergründigkeiten, die Feldenkirchen sich gönnt. Es gibt auch abgegriffene Bilder, hölzerne Dialoge und flache Charaktere.

Das alles schadet dem Roman aber kaum, denn der Plot, das vom Autor entfaltete und handfest dargestellte Dilemma, hat es in sich und reicht über die Dimensionen eines „Unterhaltungsromans“ hinaus: Lassen sich abstrakte Wertorientierung und konkrete Lebensbewältigung, Grundsatztreue und Pragmatismus in der spätmodernen Lebenswelt verbinden? Kann es passieren, dass sich Prinzipien von der Wirklichkeit korrigieren lassen dürfen, ja müssen? Feldenkirchen stellt diese Fragen, ohne zu wohlfeilen Antworten zu kommen. Am hier gut beschriebenen Berliner Politbetrieb lässt sich das Problem konzentriert wie in einem Brennglas analysieren. Aber es ist unser aller Problem.