Mit „1234“ landete die kanadische Sängerin Leslie Feist einst einen Welthit. Im Kölner E-Werk präsentierte sie sich als gereifte Künstlerin – mit klugen Taschenspielertricks.
Konzert im Kölner E-WerkWie Feist ihr Publikum charmant hinters Licht führt
Wo ist Eddie? Und wer hat sein Tagebuch geklaut? Leslie Feist steht auf einer kleinen runden Bühne inmitten des Kölner E-Werks. Ihren Weg dorthin, vom labyrinthischen Backstage-Bereich quer durchs Publikum, hatte sie mit einem Camcorder dokumentiert. Die Live-Bilder werden auf den weißen Vorhang übertragen, der die große Bühne verdeckt. Aber nun braucht die Sängerin beide Hände für ihre Akustik-Gitarre und wählt aus den sie umringenden Fans Eddie als Kamerakind aus. Der mäandert mit dem Camcorder durch die Menge. Steht man zu nah vorm weißen Vorhang, wird einem schwindelig.
Auf Feists Anregung hin lässt Eddie sich von Zuschauern emotional aufgeladene Bilder zeigen, lachende Kinder, liebende Frauen, Männer in der Brandung, Pommes mit Mayo. Gelächter füllt den Saal, Feist muss kurz unterbrechen. Spätestens in diesem Augenblick ist man gemeinsam zu einer Reise aufgebrochen.
Leslie Feist singt auch ihren ersten, mit Chilly Gonzales produzierten Hit
Oder war man das schon, als die Kanadierin die Single anstimmte, mit der sie vor fast 20 Jahren bekannt, wenn auch noch nicht berühmt geworden war? Die müsse sie unbedingt spielen, weil sie ja heute Abend in der Kölner Wahlheimat ihres musikalischen Freundes Chilly Gonzales gastiere. Der hatte damals ihr Major-Label-Debüt produziert. „Mushaboom“ können hier noch alle mitsingen, und als Feist mithilfe ihrer Loopstation immer neue Gesangsspuren übereinander schichtet und die mit dem Publikumschor zum reinen Popglück amalgamieren, will der Jubel kein Ende nehmen.
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Feist scherzt über einen Auftritt in Stockholm, für den der örtliche Veranstalter die Stadt mit dem Namen ihres aktuellen Albums plakatiert hatte, nur dass das an Stelle von „Multitudes“, „Vielfältigkeiten“, „Multidudes“ geschrieben stand. „Ein Haufen Männer, wie sagt man das auf Deutsch?“, fragt die Sängerin. Dann singt sie in „Century“ davon, wie ein Mann zum nächsten führen kann, bis man endlich beim Richtigen landet. Auf der Leinwand vervielfältigt sich ihr Bild in Endlos-Spiegelungen.
Aber was macht Eddie denn jetzt? Filmt manisch den Boden ab, folgt mit seiner Kamera Kabelsträngen. Und wie ist sein Tagebuch plötzlich auf der kleinen Bühne gelandet? Ob sie mal hereingucken soll?, fragt Feist. Vielleicht könnte sie ja einen Satz vorlesen, ohne allzu indiskret zu sein. Eddie schreibt ziemlich poetisch von einem heranziehenden Sturm, der sich über ihm am Himmel krümmt.
Und Feist setzt zu einem langen philosophischen Exkurs über die Nähe von Geburt und Tod an, über den elektrischen Lebensfunken, der im Auge des Gegenübers aufblitzt und irgendwann, zu früh, wieder erlischt. Während der Pandemie ist sie Mutter einer Tochter geworden und hat ihren Vater verloren.
A-Capella-singend bahnt sie sich den Weg zur großen Bühne, steigt die Treppe hoch. Der Vorhang fällt, dahinter ihre vierköpfige Band im Gegenlicht, der Klang schwillt gewaltig an, der Song wird zum Ursprungsmythos ihrer Kunst: Sie habe alle ihre Ringe abgestreift und in der Erde gepflanzt, singt Feist: „Die Welt ist ein Ring, die Sterne sind Ringe, der Mond ist ein Ring, das Licht kam herein, die ganze Erde hebt zum Singen an.“ Plötzlich ist sie ein Rockstar und spielt auf ihrer Gitarre eckige Rockstar-Soli.
Nach ihrem Millionenseller „Reminder“ hätte es sich Feist im Erwachsenenradio gemütlich machen können, stattdessen wurde ihre Musik zunehmend vertrackter, artrockiger, individueller. Sie wollte kein Star sein, sondern Künstlerin. Sicher die richtige Entscheidung. Sie richtet sich ja auch gar nicht gegen das Publikum. Das hält die 47-Jährige weiterhin souverän in ihrem Bann, lässt es lustige Liebesbekenntnisse mitsingen („Ich würde für Dich jede Party verlassen“), gibt endlich auch ihren größten Hit, „1234“ zum Besten, allerdings in einem psychedelisch verhallten Arrangement, Lichtjahre entfernt vom Original oder der charmanten Version, die sie damals in der „Sesamstraße“ sang.
Dann fällt ein zweiter weißer Vorhang, Feist kriecht unter ihm hervor, trägt zu schwarzem Träger-Top und schwarzem Rock nun noch einen grünen Überwurf. Sie singt vom Frausein, lädt alle dazu ein, geht wieder ins Publikum, breitet den grünen Überwurf aus, der als Greenscreen funktioniert und die Sängerin auf der neuen Leinwand kubistisch auffächert. Sie ist viele. Wir sind eins.
Und der filmende Eddie? Den gibt es gar nicht, der entpuppt sich als fünftes Bandmitglied, das jeden Abend unter anderem Namen firmiert, als die kleine Lüge, mit der man den großen Wahrheiten näher kommt.