Köln – Was für ein Gegensatz! Nach dem überbordend-fantastischen Zirkus-Spektakel von „Benvenuto Cellini“, das leider mit dem Werk wenig zu tun hatte, folgt an der Kölner Oper – auf der Bühne Staatenhaus II – im Wochenabstand jetzt „La Bohème“ in einer Regieversion des früheren Kölner Opernintendanten Michael Hampe. Sie ist zwar in ihrer Bildersprache ebenfalls opulent, zugleich aber realistisch, schmiegt sich eng der musikalischen Handlung an, gibt, der Opernverfilmung Robert Dornhelms nicht unähnlich, die Oper „eins zu eins“. Grübelnde Fragen der Art, was dies und jenes solle, stellen sich hier nicht.
„Meine Idee ist das Werk“, hatte Hampe kürzlich im „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu seiner Puccini-Inszenierung gesagt. Bündiger kann man nicht dem Regie-Theater eine Abfuhr erteilen. Wobei die geäußerte Auffassung problematisch ist: Was das Werk denn an und für sich sei – genau dies ist eben in der Rezeptionsgeschichte üblicherweise reizvoll strittig.
Fantasielosen Leerlauf gibt es nicht
Vom Publikum wurde jedenfalls die die Augen weidende Straßenszene des zweiten Bildes spontan beklatscht – Hampe bedient ein offensichtlich weit verbreitetes Bedürfnis nach sinnlicher Schönheit und stilvollem Dekor. Und es geht zwar um Schwindsucht, aber blutig gehustete Taschentücher bekommt man nicht zu sehen. Und es wird auch noch geschmacklich einwandfrei gestorben.
Auf der anderen Seite waren in der Pause Gäste anzutreffen, die verdrossen behaupteten, so eine „Bohème“ hätte auch schon ihre Uroma zu sehen gekriegt. Da mag was dran sein, der Name Hampe steht von jeher nicht für eine revolutionäre Bühnenästhetik. Allerdings: Wer es mit dem abschätzig gemeinten Hinweis darauf belässt, macht es sich zu einfach. Zu fragen ist dann immer noch, was der Regisseur innerhalb des von ihm gewählten Rahmens konkret anstellt. Nun, Hampe stellt ziemlich viel an – fantasielosen Leerlauf gibt es hier jedenfalls nicht.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, ob sich das Staatenhaus als operntaugliches Theater erwiesen hat.
Eiffelturm und Invalidendom im Staatenhaus
Das Einzige, was er und sein Bühnen- und Kostümbildner Roman Droghetti an der Oper substanziell verändern, ist die Spielzeit des Werks: Wir befinden uns jetzt nicht mehr im 19. Jahrhundert, sondern in der Zeit um 1920 – einer Epoche, in der Paris vor jungen und teils eben bohèmehaften Genies überquillt: Picasso, Gris, Cocteau, Braque, Strawinsky. Es gibt erste Automobile, man kleidet sich im Quartier Latin zeitgemäß dandyhaft, und die Stadt ist bereits elektrifiziert. Von der durch ein riesiges schräg gestelltes Bogenfenster als solche ausgewiesenen Mansarde der Bohemiens (erstes und viertes Bild), wo man sich freilich noch der Armut halber mit Kerzen behelfen muss (die sind halt auch dramaturgisch unverzichtbar), geht der Premium-Blick auf eine sich in der Dunkelheit erleuchtende Metropole (mit den Erkennungsmarken Invalidendom und Eiffelturm).
Morgen, Mittag, Abend, Nacht: Tatsächlich gehört das Bewusstmachen von Zeit – von Tages- wie von Jahreszeit – und damit der Vergänglichkeit des Lebens zu den tragenden Sinn- und Sinnenreizen der Inszenierung. Der Strauß aus frischen Blumen, der erst im vierten Bild auf dem Tisch steht – er verweist auf Mimis und Rodolfos vorangegangene Übereinkunft, sich im Frühling zu trennen.
La Bohème als assoziative Brücke zum Trotz der Pariser
Die Dominanz des Paris-Motivs, die sich auch in der prallen, milieusatten, von Blau-Weiß-Rot erfüllten Quartier-Latin-Szene erhält, weist übrigens über sich selbst hinaus: Wenn man zu Mimis Tod den Vorhang zuzieht und damit die wie erfrorene Stadt „verschwindet“, dann wird deutlich: Sie, deren Kulisse bei Hampe zwischenzeitig zu tanzen beginnt und mit Chagall-Bildern überblendet wird, ist die Allegorie der Liebe der Protagonisten – und damit die eigentliche „Hauptfigur“ der Produktion.
In diesen Tagen halten die Pariser dem Terror trotzig Hemingways Buch „Paris – ein Fest fürs Leben“ entgegen. Glücklich-makabrer Zusammenfall: Von Hampes „Bohème“ aus lässt sich in diese Richtung krampflos eine assoziative Brücke schlagen.
In der Sorgfalt der Personenführung und des die Musikimpulse aufnehmenden Bewegungsspiels lässt sich diese Regie kaum übertreffen. Sicher; in der Begegnung Mimi – Rodolfo wäre etwas mehr Erotik durchaus statthaft gewesen. Und die Umsetzung der realistische Intention gelingt auch nicht immer: Drinnen friert man sich fast zu Tode, aber draußen ist es so warm, dass – am Weihnachtstag! – Straßengastronomie geöffnet hat.
Staatenhaus II ein rundum operntaugliches Theater
Gesungen wird im Staatenhaus ordentlich bis ausgezeichnet. Die jüngst noch in Düsseldorf als Arabella gefeierte Jacquelyn Wagner gibt ihrer Mimi die Kraft erfüllter, strömender Lyrik, berückt aber auch noch durch das quasi tonlose Pianissimo der Sterbenden (die man ihr freilich sonst nicht ganz abnimmt). Jeongki Cho verfügt für den Rodolfo über einen schönen, fülligen Tenor, der aber in der Höhe auch schon mal eng wird und mit übertriebenen Portamenti misshagt. Aoife Miskelly überzeugt als kokette Musette, Miljenko Turk als kernig-präsenter Marcello. Die übrigen Besetzungen geben keinen Anlass zu Klagen, der gut präparierte Opernchor und die Mädchen und Knaben des Domchores ebenfalls nicht.
Einen großen, leuchtenden, schwelgenden, die Sinnlichkeit der Partitur voll auskostenden Puccini-Sound entlockt der italienische Maestro Francesco Angelico dem Gürzenich-Orchester. Manchmal geschieht da etwas zu viel des Guten, der üppige Klang deckt auch schon mal die Bühne zu – wenngleich auf der anderen Seite immer wieder gerade die kammermusikalische Zurücknahme und Individualisierung der Orchesterstimmen erfreut. Entwarnung kann in Sachen Spielstätte gegeben werden: Das Staatenhaus II entpuppt sich als rundum operntaugliches Theater.