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Max-Ernst-Museum BrühlRetten uns die „Hypercreatures“ vor uns selbst?

Lesezeit 4 Minuten
Eine Superheldin steht vor einer Stadtkulisse.

Aus Lu Yangs Video „Binary conflicts invert illusions“ (2022)

Im Max-Ernst-Museum zeigen junge Künstler, wie sie sich den neuen Menschen vorstellen – als Mischwesen, das in Netzwerken lebt.    

Am ersten Tag erschuf Gott „The Sound of Music“ – jedenfalls in der Schöpfungsgeschichte, die Marco Brambilla aus lauter Versatzstücken der jüngeren Hollywood-Filmgeschichte entworfen hat. Im Strudel einer Doppelhelix stürzen aus dem Kino entführte Figuren, Landschaften und Requisiten in eine bodenlose Tiefe, die nach einem paradiesischen Vorspiel im Alpen-Musical so rasch wie unweigerlich die Form apokalyptischer Höllenkreise annimmt.

Schaden kann ein fiktiver Aufbruch in die „Mythologien der Zukunft“ nicht

Seine Version der „Creation“ hat der ins Medienkünstlerfach gewechselte „Demolition Man“-Regisseur als spektakuläre (und daher selbstwidersprüchliche) Abrechnung mit unserer scheinbar unstillbaren Konsumlust am Spektakel inszeniert. In der Ausstellung „Hypercreatures“ im Max-Ernst-Museum Brühl erfüllt Brambillas riesige Videoinstallation allerdings noch eine andere Funktion. Sie fasst, so Co-Kurator Patrick Blümel, all die Erzählungen aus Film, Literatur und Mythen zusammen, in denen ein archetypischer Held auf eine konfliktreiche Reise geht und am Ende gegen alle Widerstände obsiegt.

Gegen diese auf Konflikt und Gegeneinander gepolte Heldenfigur setzen Blümel und seine Ko-Kuratorin Sophia Naumann einen neuen mythologischen Helden der Zukunft – die titelgebende Hyperkreatur. Sie lässt das zerstörerische Regime des alten Menschen hinter sich und lebt in symbiotischen Beziehungen mit allen anderen Lebewesen, in einem neuen „Pluriversum“, in dem die Aushöhlung unserer Lebensgrundlagen ebenso hinter uns liegt wie Krieg, Ausbeutung und Gewalt. Der Gedanke dahinter ist so schlicht wie einleuchtend: Wenn ich mit allem verbunden bin, verletze ich mich selbst, wenn ich der Blume ein Blättchen krümme.

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Ein Gesicht, aus vielen künstlichen Elementen zusammengesetzt.

Anne Horels KI-Gesicht „Lepidodinium Chlorophorum“ (2024)

Leider ist diese Einsicht in die Selbstwidersprüche der Aufklärung nicht neu und hat den Menschen bislang nicht davon abgehalten, die Natur, deren Teil er ist, zu unterwerfen und auszubeuten. Aber vielleicht ist die Zeit jetzt ja reif für eine Umkehr – und sei es nur im Utopia einer Ausstellung digitaler Kunstprodukte. Schaden kann so ein fiktiver Aufbruch in die versprochenen positiven „Mythologien der Zukunft“ sicher nicht, zumal als Gegenentwurf zu all den Untergangsvisionen, die der Menschheit ein baldiges und verdientes Aussterben prophezeien.

Im Max-Ernst-Museum liegt die Rettung vor allem im Mischwesen, das sich dank digitaler Mithilfe mittlerweile spielerisch einfach erzeugen lässt. Anne Horel collagiert bunte Masken, die ein wenig an Arcimboldos Früchtegesichter erinnern, sich aber aus potenziell allen Formen organischen Lebens zusammensetzen, Eva Papamargariti entwirft auf Bildern und Videos menschenähnliche Formwandler, und die Malerin Anys Reimann verbindet Menschen, Tiere und Pflanzen zu Wesen, in denen das geteilte Weltwissen in polymorph-lasziv hingestreckten Fruchtbarkeitsgöttinnen zusammenfließt.

Die digitalen Beiträge schöpfen ihre Motive aus den Fantasywelten der Computerspiele

Unter die 26 zeitgenössischen Positionen haben die Kuratoren einige Chimären aus dem Werk des Hauspatrons Max Ernst verteilt. Sie dienen als kunsthistorische Verankerung im Surrealismus, dessen Vertreter bereits vor 100 Jahren die vermaledeite Vernunftexistenz der Menschen um „irrationale“ Superkräfte erweitern wollten, und finden in beinahe klassisch arbeitenden Künstlern wie Reimann eine dankbare Generation an Nachfolgern. So grundiert Angelo Plessas seine eher beliebig wirkenden TikTok-Meditationen mit handgenähten Quilts, auf denen freundliche Götterwesen in ihr kindgerechtes Universum einladen; und Linda Jasmin Mayer fertigt originalgetreue Vogelmasken, die auf menschliche Köpfe passen und ihren Trägern eine (leider weiterhin eher bodenständige) Vogelperspektive ermöglichen sollen.

Die digitalen Beiträge schöpfen ihre Motive vor allem aus den Fantasywelten der Computerspiele – drehen aber deren verbreitete Handelslogik um. Mary-Audrey Ramirez hat ein Game entworfen, in dem schwache und verletzliche Wesen einander Stärke spenden, und Lu Yang lässt zwei Straßenkämpferinnen miteinander auf einem Yin-und-Yang-Symbol tanzen, bevor sie im Finale zu einer neuen, die Gegensätze überwindenden Figur verschmelzen. Lu Yangs 4,30-Minuten-langes Video zieht eine hypnotische Kraft aus der Dauerschleife, in der ihre hybriden Heldinnen gefangen sind – manches kunterbunte KI-Werk erinnert hingegen eher an die einschläfernde Ästhetik von Bildschirmschonern.

Auf absehbare Zeit dürfte die digitale Zauberwelt der natürliche Lebensraum der Hypercreatures bleiben, denn sie verlieren merklich an Reiz, sobald sie sich als kostümierte Schauspieler in die gefilmte Wirklichkeit verirren. Federico Cuatlacuatls raumfüllende Drei-Kanal-Arbeit versetzt Zeitreisende in Tiermasken in eine imposante mexikanische Landschaft, aber die schöne Idee des Regisseurs, zu zeigen, wie sich „indigene Traditionen über Grenzen schmuggeln lassen“, will sich auf den Bildschirmen einfach nicht materialisieren.

Am Ende bleibt die Heldenreise der „Hypercreatures“ etwas hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück, und selbstredend entkommen auch die Kuratoren dem Erzählen in Konflikten nicht. Ihre Menschen der mythologischen Zukunft brauchen uns als gegenwärtige Schurken, um verführerisch schillern zu können. Eines Tages sind sie dann vielleicht auch Futter für Brambillas stürzenden Höllenkreis.


„Hypercreatures – Mythologien der Zukunft“, Max-Ernst-Museum des LVR, Comesstr. 42, Brühl, 22. März bis 5. Oktober 2025. Eröffnung: Freitag, 21. März, 19 Uhr, Eintritt frei.