Köln – Derzeit entsteht zwischen Kölner Rathaus und Wallraf-Richartz-Museum das MiQua, das neue Jüdische Museum, das die archäologische Stätte des alten jüdischen Viertels mit einer bis in die Gegenwart reichenden Ausstellung verbindet. 2025 soll das Haus nach heutigem Stand eröffnen – bis es soweit ist, gibt sich das MiQua unter Leitung seines designierten Direktors Thomas Otten bereits auf anderen Wegen seine Programmatik: durch die Beteiligung an einer Vorlesung der Universität Köln etwa, mit der das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ eingeläutet wurde, aber auch durch eine Tagung im vergangenen Frühjahr, und wesentlich durch eine Schriftenreihe, deren erster Band nun vorliegt. „Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland“ ist er betitelt, und er verspricht, „aktuelle Fragen und Positionen“ zu behandeln.
Präsentation im Kolumba
Otten stellte das Buch gemeinsam mit seinen Mitherausgeberinnen Laura Cohen und Christiane Twiehaus nun in Köln vor, und zwar an einem Ort, der für das entstehende Jüdische Museum in den vergangenen Wochen große Bedeutung erlangte – im erzbischöflichen Museum Kolumba nämlich, wo zuletzt zwei für das spätantike und das mittelalterliche Judentum zentrale Schriften ausgestellt waren und immer noch sind: Der Amsterdam Machsor, der die Liturgie der Kölner Gemeinde stiftete, und der Codex des römischen Herrschers Theodosius, der eben jenes Dekret des kaiserlichen Vorgängers Konstantin enthält, das in diesem Jahr der Grund zum Feiern ist: 321 bestimmte Konstantin, dass Juden Zugang zum Kölner Stadtrat erhielten. Die Neuzugänge der Kurie werden damals schwerlich in Festtagslaune gewesen sein. Wer im Stadtrat saß, haftete mit dem eigenen Vermögen für die öffentlichen Ausgaben, und weil das spätantike Köln eine wirtschaftliche Krise durchlebte, griff man nun offenbar auf die zurück, die man zuvor verschmäht hatte.
Die theodosianische Gesetzessammlung musste bereits wieder dorthin zurückreisen, wo sie seit vielen Jahren gehütet wird, in den Mauern des Vatikan, der das ebenso gewichtige wie wertvolle Buch nach vielen Verhandlungen an den Rhein auszuleihen bereit war. Bis in den Sommer 2022 aber ist die Ausstellung „In die Weite“ noch zu besichtigen, und dort wird man vieles finden, was auch im Auftaktbuch der neuen Schriftenreihe ausführliche Erwähnung findet: Der Amsterdam Machsor natürlich, ein illuminiertes, also reich verziertes Gebetbuch, das künftig auch im MiQua immer wieder ausgestellt werden soll. Oder der Goldring aus dem mittelalterlichen jüdischen Viertel in Köln, der in einer Latrine gefunden wurde. Oder Schätze aus den Genisot, aus Räumen und Dachböden in der Synagoge, in denen in der Hauptsache literurgische Gegenstände und Schriften aufbewahrt werden, die gerade keine Verwendung finden. Manchmal aber auch überraschende jiddische Versionen deutscher Volksbücher wie vom „Tapfferen Helden Wieduwilt“ oder die „Historie fun der schene Melusina“.
Der Reiz und die große Qualität des Buches liegen im Ehrgeiz der Herausgeber, beachtliche Zeitbögen zu schlagen – vom Mittelalter in die Moderne, von der Antike in die Zeit der sogenannten Emanzipation, von Konstantins Dekret aus dem Jahr 321 ins Jahr 1986, als das von Salomon Korn erbaute jüdische Gemeindezentrum in Frankfurt eingeweiht wurde und der Architekt vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von einem Ort neuer Sesshaftigkeit sprach –die Schoa lässt dieses vielfältige Buch natürlich nicht aus, daneben widmet es sich aber auch vernachlässigten Kapiteln wie jüdischen Erfahrungen in der Heimat des verordneten Antifaschismus, der DDR, denen sich die Autorin Lisa Schoß über das Medium Film nähert. Ein analytischer Glanzpunkt dieses Bands.
Dabei verbindet sich wissenschaftliche Akkuratesse hier ganz selbstverständlich mit der Ansprache eines großen Publikums. Sämtliche Beiträge sind großzügig illustriert, ja, am Ende des Buches übernehmen die Bilder sogar komplett die Regie, denn hier mündet alles in ein großes Fotofinale mit Abbildungen von archäologischen Funden aus Köln. Die Texte selbst verdanken sich einer Blütenlese aus der aktuellen Forschung deutscher Universitäten zum jüdischen Leben einst und in der Gegenwart. Sie waren Teil der Tagung vom Frühjahr und widmen sich Sachfragen wie der Rolle Israels für Jüdinnen und Juden ebenso wie Persönlichkeiten wie dem Fernsehregisseur Karl Fruchtmann oder Jacques Offenbachs Vater Isaac, der Kantor der jüdischen Gemeinde in Köln war. Und auch der Karneval aus jüdischer Perspektive kommt vor.
Auf Köln kommt das Buch immer wieder zu sprechen, als neue Heimat des MiQua ist die Stadt aber nicht selbstbezügliches Zentrum aller Reflexionen und Bilder, sondern vielmehr Ausgangspunkt für Reisen, die quer durch Deutschland und über die Grenzen hinaus und durch die Zeiten führen. Wenn das Buch also tatsächlich ein Versprechen auf die Arbeit des neuen Museums ist, dann gibt es Anlass zur Freude.
„Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland“, hrsg. von Laura Cohen, Thomas Otten, Christiane Twiehaus, Nünnerich-Asmus-Verlag, 176 Seiten, 108 Illustrationen, 25 Euro