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Nick Cave in Köln„Nachdem mein Sohn gestorben war, begann ich die Welt zu lieben“

Lesezeit 4 Minuten
05.06.2023, Nordrhein-Westfalen, Köln: Nick Cave, australischer Musiker und Autor, stellt bei der Lit.Cologne Spezial im Theater am Tanzbrunnen sein Buch „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ vor. Das Buch entstand während mehr als 40 Stunden persönlicher Gespräche zwischen Cave und dem Co-Autoren Sean O'Hagan.

Nick Cave stellt im Theater am Tanzbrunnen sein Buch „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ vor.

Im Rahmen der lit.Spezial stellte der australische Sänger sein Buch „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ im Theater im Tanzbrunnen vor – und beantwortete selbst intimste Fragen.

Sein ganzes Leben, sagt Nick Cave, ließe sich als ein langsames Herantasten an Gott beschreiben. Er erzählt das dem irischen Journalisten Sean O’Hagan und auch dem Publikum, das im Theater im Tanzbrunnen jedes Wort, jede Geste des Sängers gebannt verfolgt. Die lit.Cologne hat zu diesem Special geladen, zudem ist der gemeinsame Band der beiden „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ im Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen. Am Ende werden die just erstandenen Bücher signiert.

Es handelt sich also auch um eine Art tourender Verkaufsveranstaltung, O’Hagan hat Cave bereits an so vielen Orten die gleichen oder zumindest ähnliche Fragen gestellt, dass man eher von einer Gesprächsperformance als von einem Gespräch schreiben möchte – wenn nicht immer wieder der Inhalt die Form pulverisieren würde.

Schon in seinen wilden Anfängen als Sänger der australischen Punkband The Birthday Party wühlte Nick Cave gerne in abgründigen Tiefen, inzwischen, mit 65 Jahren, verbindet er seine De-profundis-Nachrichten allerdings mit einer Offenheit, Klarheit und Zugewandtheit, die den einstigen Düstermann in den wohl unwahrscheinlichsten – aber effektivsten – aller Life-Coaches und Selbsthilfe-Gurus verwandelt haben.

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Wie Sänger Nick Cave in Köln öffentlich mit seiner Trauer ringt

Sein Damaskuserlebnis ereilte Cave vor sieben Jahren, als sein Sohn Arthur im Alter von 15 Jahren bei einem Sturz von einer Klippe in der Nähe von Brighton tödlich verunglückte. Auch in Köln kreist das Gespräch immer wieder um diesen tiefsten Punkt im Leben des Sängers und die Menschen aus dem Publikum, die anschließend Fragen stellen dürfen, kommen wiederholt darauf zu sprechen, ja Cave lädt sie förmlich dazu ein.

Er hat beschlossen, öffentlich mit der übermächtigen Trauer zu ringen. Auf seinen Konzerten, die zunehmend an die Gottesdienste von Pfingstgemeinden erinnern, in Dokumentarfilmen und offenen Frage-Antwort-Sessions oder in seinem Newsletter „The Red Hand Files“, den er mit dem Versprechen bewirbt „Ihr könnt mich alles fragen“, trotzt er der Trauer Trost ab. Nicht nur für sich, sondern für alle, die Trost nötig haben.

Erst der Tod seines Kindes habe ihn in einen echten Menschen, „an actual person“, verwandelt, bilanziert Nick Cave in Köln. Aus dem Anzug tragenden Wüterich, der so markerschütternd von Mord, Sucht und Totschlag singen kann, wie kein Zweiter, ist ein Mann Gottes geworden.

Warum Nick Cave in den Schoß der Kirche zurückgefunden hat

Ob man nun wirklich glaube, oder nicht, sagt Cave, sei dabei gar nicht so wichtig: „Die Frage, ob Gott existiert, ist nichts, mit dem ich viel ringe. Mein Glaube erlaubt es mir, zu glauben und gleichzeitig nicht zu glauben. Die christliche Kirche gewährt Raum für Zweifel und Unsicherheit. Das finde ich sehr überzeugend.“

Manchmal, erzählt er, nehme er mit seiner Frau Susie das Heilige Abendmahl in einer kleinen, bescheidenen Dorfkirche aus dem elften Jahrhundert. Einmal hätte der Vikar erwähnt, dass in der Nebenkapelle jemand sei, der für jeden beten würde, der gesundheitliche oder andere Probleme habe. „Susie nahm meine Hand und zog mich zu dieser Kapelle. Dort saß eine winzig kleine, alte Dame. Sie mochte 100 Jahre alt sein. Susie sagte zu ihr: „Mein Sohn ist gestorben“ und fing an hemmungslos zu weinen. Die alte Dame hielt sie fest und betete. Es war außerordentlich bewegend. Wo sonst können wir in unserer säkularen Gesellschaft eine solche Erfahrung machen? Wohin sonst können wir uns mit diesen Dingen wenden?“

Nick Cave erzählt von Kylie Minogue und Blixa Bargeld

Die Antwort liefert Cave in der anschließenden Stunde, in der er wirklich jede Frage geduldig beantwortet, mit demselben unerschütterlichen Charme über die Weisheit des sufistischen Enneagramm parliert, wie über die Drogenjahre mit Blixa Bargeld in Berlin, seinen Keramikzyklus, der vom Leben des Teufels erzählt oder Kylie Minogues exzessiven Gebrauch des Ausrufezeichens. Es ist der Höhepunkt der Veranstaltung.

Warum er von seinem ersten Leben vor Arthurs Tod nichts mehr wissen wolle, fragt eine Frau, wäre es nicht besser, auch mit dem alten Nick Cave seinen Frieden zu machen? Da habe sie schon recht, räumt der Geläuterte ein, er könne all diese Jahre nicht verleugnen. Aber er könne ebenso wenig den selbstbezogenen Kreativling akzeptieren, der für seine Kunst seine Familie vernachlässigt habe: „Bei lustigen Rock’n’Roll-Stories wird mir schlecht.“

Ob das Glück nicht nur ein flüchtiger Moment sei und kein erstrebenswertes Ziel, erkundigt sich ein Mann beim Punk-Orakel. Den Schmerz zu vergöttlichen, sei auch keine gute Idee, pariert Cave. „Wir müssen dem Glück entgegenstreben.“ Vielleicht soll man auch nicht vom Glück, sondern vom Sinn des Lebens sprechen und von der Freude: „Die Freude bricht aus unserem Herzen hervor, wenn wir die Trauer verstehen.“

Doch als eine zweite Frau ihm ungefragt rät, den Tod seines Sohnes zu akzeptieren, widerspricht Nick Cave: Diese Wunde werde nicht mehr heilen. „Und das ist es doch, was uns als Menschen ausmacht: Wir sind verwundet.“ Was aus der offenen Wunde des Sängers fließt, ist gewichtiger als Akzeptanz: „Nachdem mein Sohn gestorben war, begann ich die Welt zu lieben.“