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Ondrej Adámeks Oper „INES“Wie die Musik der atomaren Apokalypse vorgreift

Lesezeit 3 Minuten
Hagen Matzeit trägt eine Lederjacke und einen gelben Rollkragenpullover. Er ist umgeben von befüllten, aufrecht stehenden Plastiksäcken. Im Hintergrund Kathrin Zukowski in einem Krankenbett, in Quarantäne. Die Bühne ist pink beleuchtet.

Hagen Matzeit und Kathrin Zukowski in der Oper „INES“

Die Oper „INES“ greift die griechische Tragödie um Orpheus und Eurydike auf und verlagert ihn in die atomare Katastrophe.

Der Titel dieser Oper klingt freundlich und vertraut. Doch im Gegensatz zu „Tosca“ ist „INES“ nicht der Vorname der weiblichen Hauptfigur, sondern die Abkürzung für „International Nuclear and Radiological Event Scale“. Damit werden Störfälle in Kernkraftwerken klassifiziert. Im Rückgriff auf bisherige Super-GAUs und den altgriechischen Mythos von Orpheus und Eurydike unternehmen Ondrej Adámek und Katharina Schmitt zugleich einen Vorgriff auf eine atomare Apokalypse. Von der Librettistin selbst inszeniert und vom tschechischen Komponisten selbst musikalisch geleitet wird ihr gemeinsames Musiktheaterwerk „INES“ am Sonntag von der Oper Köln im Staatenhaus uraufgeführt.

Nach „Alles klappt“ bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater 2018 ist es ihre zweite Zusammenarbeit. Gemeinsam entwickelten sie Text, Musik-, Raum- und Regiekonzept. Erzählt wird die Geschichte des Liebespaars O und E inmitten einer Atomkatastrophe. Sie wird verstrahlt und siecht dahin. Er versucht, der Verstorbenen durch Erinnerungen nahezubleiben.

Das war der Grundgedanke bei Ondrej Adámek Oper „INES“

Grundgedanke war zunächst, das Singen als ein vom rationalen Denken abweichendes Ausdrucksmittel für Gefühle und Traumata zu motivieren. „Als wir uns dann an selbst erlebte Traumata erinnerten“, so Schmitt, „dachten wir sofort an Tschernobyl. Und weil wir eine große Oper schaffen wollten, verhalten wir uns zum Kanon der Gattung, etwa zu Claudio Monteverdis ,L´Orfeoʻ, eine der ersten Opern der Musikgeschichte. Nun lassen wir die Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydice in der Zeit nach einer Nuklearkatastrophe spielen.“ Das bereits während der Corona-Pandemie geschriebene Textbuch erhielt durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine erschreckende Aktualität durch Gefechte um das Kernkraftwerk Saporischschja und die Drohung des Kremel mit Atomschlägen.

Auch Adámek brauchte für seine „Oper in einem Prolog und fünf Bildern“ ein Konzept, das den Wechsel von der Sprechstimme zum Belcanto dramaturgisch begründet: „Anfangs sprechen O und E in gewöhnlicher tiefer Lage. Erst als sie stirbt, singt sie immer höher bis zum Koloratursopran. Und seine Stimme schraubt sich hinauf bis ins Falsett.“ Ungewöhnlich ist die starke Beteiligung des Chors: „Es gibt zwei Hauptfiguren“, so Schmitt, „doch die Stimme der toten Eurydice teilt sich bald in ein Vokalensemble. Wir versuchen die Tote stimmlich und szenisch wie einen Schatten zu gestalten.“

Die Oper orientiert sich an die griechische Tragödie Orpheus und Eurydike

Wie in der griechischen Tragödie hat der Chor eine geschichtliche Funktion: „Er relativiert das konkrete Drama, das besungen und beweint wird, indem er eine eigene Zeitebene hineinbringt.“ Denn das Leben eines Menschen währt nur einen Augenblick verglichen mit der Halbwertszeit von strahlendem Material. Für Adámek tritt die Vervielfachung einer Singstimme „aus der Realität heraus in eine Dimension, die größer ist als unsere Welt.“ Das Kollektiv verkörpert die vielen Opfer aller bisherigen Atomkatastrophen. Für den Komponisten ist der Chor sowohl Gradmesser als auch „Gewissen der Menschheit. Je nach Stärke eines Nuklearunfalls auf der INES-Skala von 1 bis 7 strahlt der Chor mit unterschiedlicher Intensität.“

Die Szene im weitläufigen Saal 3 des Staatenhauses besteht aus tausend Kunststoffsäcken, wie man sie nach dem Super-GAU in Fukushima 2011 für verstrahlten Müll nutzte. Jeder Akt taucht die weißen Behältnisse in andere Farben. Optisch symbolisieren Licht und Schatten das Leben und Totenreich. Akustisch zeigen sich Strahlung, Hitze und Kälte in entsprechenden Vokaltechniken sowie elektronischer Stimmverstärkung, Text- und Klangzuspielung. Hinzu kommen Videoleinwände mit Sequenzen aus Orpheusʼ Erinnerungen. „Denn letztlich“, so Schmitt, „spielt sich alles als Seelenlandschaft im Kopf von Orpheus ab, der das Trauma des Verlusts der Geliebten wieder und wieder durchlebt.“ Dazu lässt Adámek Klänge wie in der Erinnerung verschwimmen: „Ich verwende Verfremdungen, Nachhallfarben und Schattenklänge. Das Publikum wird die besondere Nostalgie und Färbung dieser Irrealität sofort spüren.“

Zur Veranstaltung

„INES“ von Ondrej Adámek und Katharina Schmitt. Aufführungen am 22., 26., 28., 30. Juni und 3. Juli. Alle Infos gibt es hier.