So nah wie in Giuliano da Empolis Bestseller „Der Magier im Kreml“ ist man Wladimir Putin noch nie gekommen. Fragt sich nur, ob man das will.
Umstrittener Bestseller-RomanAls Putin seinen Labrador auf Merkel losließ
„Die Kanzlerin sitzt wie versteinert auf ihrem Stuhl, während Koni verspielt auf der Suche nach Streicheleinheiten auf sie zukommt. Die Kanzlerin ist kurz vor einem Nervenzusammenbruch, als Koni ihre Schnauze in ihren Schoß steckt, um den Geruch ihrer neuen Freundin zu erschnüffeln.“
Wadim Baranow, ehemaliger Strippenzieher Wladimir Putins, schildert die Szene seinem gebannten Zuhörer. Koni, das ist die riesige schwarze Labradorhündin des russischen Präsidenten, die hier, im Januar 2007, in seiner Residenz am Schwarzen Meer zum politischen Player wird.
Dass die sonst unerschütterliche Angela Merkel unter einer lähmenden Angst vor Hunden leidet, weiß Putin genau. Und selbstredend ist Merkel ebenso bewusst, dass Putin das weiß. „Das war der Moment“, schlussfolgert Baranow in Giuliano da Empolis Roman „Der Magier im Kreml“, „in dem der Zar beschloss, seine Handschuhe auszuziehen und mit dem Spiel zu beginnen ...“
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Wadislaw Surkow gilt als Erfinder des Putinismus
Der Spin-Doktor ist eine Erfindung des Autors da Empoli, allerdings eng angelehnt an den zeitweiligen Kreml-Chefideologen Wladislaw Surkow. Der gilt als Erfinder des „Putinismus“ – und als Architekt der russischen Ukrainepolitik. Ein ruchloser Zyniker, der schon lange vor dem russischen Angriffskrieg auf der Sanktionsliste der EU stand. Gleichwohl eine schillernde Figur. Er habe, heißt es im Roman, die Bühnentricks des Avantgarde-Theaters in die Politik implementiert.
Zudem ist Surkow mutmaßlicher Verfasser eines Romans, der ein desaströses Bild des postkommunistischen Russlands zeichnet und den der Autor und prominente Putin-Gegner Wiktor Jerofejew als „bemerkenswert“ lobte.
Wie der fiktive Baranow so hat auch Surkow seinen Zweck für den Potentaten erfüllt, er soll seit April 2022 unter Hausarrest stehen. Da hatte Giuliano da Empoli seinen Roman bereits fertiggestellt. Es war das erste Mal, dass sich der italienisch-schweizerische Politikwissenschaftler auf dem Gebiet der Belletristik versuchte, seine Expertise liegt anderswo: Er unterrichtet an der Pariser Elitehochschule Science Po, betreibt den proeuropäischen Think Tank Volta. Dem ehemaligen italienischen Premier Matteo Renzi diente er als Chefberater und der Stadt Florenz als zweiter Bürgermeister.
Eine literarisch verkleidete Innensicht auf Putins Motive
Von „Le Mage du Kremlin“, so der Originaltitel, erwartete sich da Empoli nicht allzu viel, doch als Gallimard den Band zwei Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine herausbrachte, stürzte sich ganz Frankreich auf das Buch, das in literarischer Verkleidung eine Innensicht auf die Motive des gefährlichsten Manns der Welt versprach. Zwar habe der Autor, heißt es in der Vorbemerkung, realen Personen ein Privatleben und erfundene Äußerungen zugeordnet, „dennoch handelt es sich um eine wahre russische Geschichte“.
Mit denkbar einfachem Konstrukt: Der Ich-Erzähler, auf akademischer Recherche in Moskau, wird von Baranow auf dessen Landsitz eingeladen, wo der Stratege ein Eremitendasein führt. Man teilt die Faszination für Jewgeni Samjatin, Mit-Organisator der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin und Autor der Dystopie „Wir“, in der eine entindividualisierte Gesellschaft geschildert wird, das Kollektiv als Albtraum. „Wir“ war das erste Buch, das im jungen Sowjetstaat verboten wurde.
Bald jedoch kommt Baranow auf die eigene Lebensgeschichte zu sprechen und der Hauptteil des Romans besteht aus seinem Monolog, gespickt mit essayistischen Betrachtungen und Aphorismen. Man denke an den großen Moralisten La Rochefoucauld, oder, um ein aktuelleres Beispiel zu wählen, an die aufs Wesentlichste komprimierten Geschichtsromane Eric Vuillards.
Nachdem Baranow als darbender Theaterkünstler seine Geliebte – deren unberechenbare Launen er mit dem Terror großer Diktatoren vergleicht– an den aufstrebenden Oligarchen Michail Chodorkowski verloren hat, startet er eine Fernsehkarriere als Produzent von Realityshows, die sich in ihrer Trashigkeit fortlaufend überbieten. Ideale Voraussetzungen, findet sein Senderchef Boris Beresowski, um die Geschicke des im anarcho-kapitalistischen Chaos versinkenden Russlands zu lenken. Als Großer-Bruder-Figur für sein politisches Programm hat sich Beresowski den Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB ausgesucht.
Wladimir Putin ist noch ein unbeschriebenes Blatt, doch Baranow erkennt sofort an der „mineralischen Härte“ seines Blickes, dass er sich nicht lenken lassen wird. Vielleicht erinnert ihn Putin an die verflossene Geliebte. Jedenfalls wirft sich der TV-Produzent an die Brust des Spions – der Senderchef ist sofort ausgebootet – und erläutert ihm seine Theorie von den vertikalen und horizontalen Achsen der Macht: Letztere entspräche der Nahbarkeit Jelzins, eher Saufkumpan als Staatsoberhaupt. Das habe zum Chaos geführt, weshalb sich die Russen nach Vertikalität, nach einem starken Anführer sehnten.
Putin verinnerlicht diese Lektion sofort, Baranow wird zu seinem Ideengeber, ein Hofnarr inmitten grauer Funktionäre, und der Spion ohne Eigenschaften steigt auf zum „Zar“. Jetzt ist er es, der geschichtsphilosophische Sinnsprüche diktiert: Die Russen forderten von ihrem Staat nur zwei Dinge: „Ordnung im Inneren und Macht nach Außen.“
Verbreitet „Der Magier im Kreml“ russische Propagandaklischees?
Das, zitiert die „New York Times“ eine Politikwissenschaftlerin, seien nur „Klischees der russischen Propaganda“. Der Roman, schätzt ein Russlandexperte in „Le Monde“, vermittele eine exotisierte und stereotype Vision des „wahren Russlands“. „Russia Today für Saint-Germain-des-Prés“, schimpft eine dritte Politologin. Hélène Carrère d’Encausse, Frankreichs bekannteste Spezialistin für russische Geschichte, lobt dagegen den Roman als Schlüsselwerk zum Verständnis Putins.
An dem Bestseller hat sich in Frankreich ein erbitterter Streit entzündet, nach der Rekordzahl von 14 Jury-Runden fehlte eine Stimme zum Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis.
Dass der Autor die geäußerten Meinungen seiner Figuren wohl kaum teilt, kommt bei der Diskussion ein bisschen zu kurz, es ist, als wären auch die Konventionen des Fiktionalen dem Krieg zum Opfer gefallen. Aufregend und erhellend ist der Roman ja gerade in seiner Perfidie.
Nur zum Ende hin unterliegt da Empoli dem Charme des Strippenziehers, gönnt ihm eine moralische Epiphanie bei der Betrachtung einer von Schutt und Erde verdreckten Puppe aus dem ukrainischen Kriegsgebiet. Dass späte Reue hier als selbstgenügsamer Kitsch erscheint, mag freilich auch an der brillanten Bösartigkeit der vorangegangenen Seiten liegen.
Giuliano da Empoli: „Der Magier im Kreml“, C.H. Beck, 265 Seiten, 25 Euro