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Zum Tod von ChristoReisender in Sachen Weltwunder

Lesezeit 4 Minuten

Verhüllter Reichstag in Berlin

  1. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Jeanne-Claude verhüllte Christo den Reichstag, ummantelte ganze Inseln und ließ begeisterte Besucher übers Wasser gehen.
  2. Der gebürtige Bulgare gehörte zu den bekanntesten Künstlern der Welt, seine Projekte waren Spektakel, die den Alltagslauf anhielten.
  3. Am Pfingstsonntag ist Christo gestorben. Eine Würdigung.

Köln – Um die unwahrscheinliche und selbst für die Kunstwelt ziemlich verrückte Erfolgsgeschichte von Christo zu verstehen, muss man sich nur einmal diese Situation vorstellen: Es klingelt abends an der Haustür, draußen stehen zwei leicht verschroben wirkende Fremde und bieten dem Eigenheimbesitzer freundlich ihre Dienste an. Was er davon hielte, das Ehebett für einige Wochen mit glitzernden Stoffbahnen zu verpacken, den Garten mit Plastikplanen auszulegen oder die Garage mit Ölfässern zu füllen? Auf die verdutzte Antwort „Nichts“, reagieren die Besucher, indem sie Planskizzen ausrollen, Expertisen und Referenzen aus der Tasche ziehen und dem Hausherrn mitteilen, dass die Finanzierung bereits geklärt und seine halbe Familie von der Idee total begeistert sei. Manchmal dauert es noch Jahre, aber eines Tages wird dann doch das Ehebett verschnürt, der Garten verhüllt oder die Garage vollgestellt – und die halbe Stadt steht vergnügt Schlange, um sich das Spektakel anzusehen.

Reichstagsverhüllung als nationaler Notstand

So ähnlich liefen die Projekte von Christo und Jeanne-Claude, dem berühmtesten Paar der modernen Kunstgeschichte, meistens ab, nur dass sie nicht Eigenheimbesitzer, sondern Bürgermeister, Gouverneure oder nationale Parlamente auf ihre Seite ziehen mussten. Vor der Verhüllung des Berliner Reichstags debattierte der Deutsche Bundestag über ihr Projekt wie über einen nationalen Notstand und verlieh der Kunst damit eine Bedeutung, die sie sonst nur in längst verblichenen Künstlerutopien hatte. Die Sinnfrage wurde dabei so lange hin und her gewendet, bis sie sich verflüchtigte. Im Grunde gaben Christo und Jeanne-Claude den Menschen etwas, das ihnen bereits gehörte, indem sie es ihnen vorübergehend wegnahmen. Mit Schleife drum wurde aus diesem lächelnden Diebstahl (kunsttheoretisch formuliert: Eingriff in den Alltag) ein Geschenk, an dem sich alle erfreuen konnten.

Christo

Christos Großprojekte hatten eine Wirkung wie Schneeverwehungen in der Südsee. Sie hielten das Leben kurzzeitig an und ließen die Menschen staunen – über die Kunst an sich oder darüber, dass so etwas erlaubt ist. Dabei war Christo nicht der erste Künstler, der Dinge verpackte, aber der erste, der daraus eine eigene Kunstform machte. Außer dem Berliner Reichstag hüllte er gemeinsam mit Jeanne-Claude die Pariser Brücke am Pont Neuf in Stoffbahnen, er ummantelte ganze Inseln, zog einen 400 Meter langen Vorhang durch ein Bergtal und ließ Tausende auf schwimmenden Stegen übers Wasser gehen. Wie selbstverständlich schlug die Kunst bei ihm stets in Richtung achtes Weltwunder aus.

In Bulgarien malte er schlafende Bauern

Geboren wurde Christo am 13. Juni 1935 als Christo Vladimiroff Javacheff im bulgarischen Städtchen Gabrovo. Als Absolvent der Kunstakademie in Sofia sollte er mithelfen, westlichen Bahnreisenden entlang der Orient-Express-Linie einen blühenden Sozialismus vorzugaukeln; stattdessen malte er lieber schlafende Bauern auf die überlebensgroßen Leinwände und handelte sich Ärger ein. 1956 floh Christo nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn in einem verplombten Eisenbahnwaggon in den Westen. Ob er währenddessen auf die Idee mit den Verpackungen kam? Ein wenig mag er sich damals jedenfalls selbst als verschnürtes Paket gefühlt haben – ohne Adressaten auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.

In Paris angekommen, schlug sich Christo zunächst als Porträtmaler durch, was ihm wenig behagte, aber immerhin die Bekanntschaft von Jeanne-Claude, der Stieftochter des französischen Generals Jacques de Guillebon, verschaffte. Sie wurde seine lebenslange Liebe und künstlerische Partnerin, wobei Jeanne-Claude die längste Zeit ihrer Zusammenarbeit im Hintergrund blieb – erst 1997 rückte sie offiziell an die Seite Christos.

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Größeres Aufsehen erregten die beiden erstmals 1961, als sie eine Straße in Paris mit Ölfässern blockierten, um gegen den Bau der Berliner Mauer zu protestieren. Als die Polizei anrückte, überredeten Christo und Jeanne-Claude sie zum Entsetzen feststeckender Autofahrer, die Blockade noch einige Stunden stehen zu lassen. Spätestens jetzt dürften die beiden ihr Talent dafür entdeckt haben, außer Objekten auch widerspenstige Entscheidungsträger einzuwickeln. In der Regel waren Politiker erst einmal strikt dagegen, wenn Christo und Jeanne-Claude mit ihren Ideen kamen; deren Umsetzung dauerte nicht selten mehrere Jahre und kostete schon mal einen zweistelligen, stets privat finanzierten Millionenbetrag. Dass seine Arbeiten erst niemand haben will und hinterher (fast) alle begeistert sind, gehört zur festen Folklore von Christos Werk.

Als Weltreisende in Sachen Großskulpturen wurden Christo und Jeanne-Claude in den 1970er Jahren zur Marke. Gemeinsam brachten sie das Spektakel in die der Innerlichkeit zugeneigte moderne Landschaftskunst: Statt ans Ende der Welt gingen sie bewusst in touristisch erschlossene Gebiete wie Paris, Rom, New York oder Berlin; in Oberhausen füllten sie gleich zwei Mal den Gasometer mit monumentalen Installationen.

Seit Jeanne-Claudes Tod im Jahr 2009 führte Christo ihre gemeinsamen Projekte alleine fort. 1962 hatten die beiden den Plan gefasst, den Pariser Triumphbogen zu verhüllen – diesen Herbst wäre es soweit gewesen, doch wegen Corona musste die Verwirklichung ihres Traums noch einmal aufgeschoben werden. Jetzt wird es das Vermächtnis dieses unwahrscheinlichen Künstlerpaares sein. An Pfingstsonntag ist Christo im Alter von 84 Jahren gestorben.