Im Strafprozess wegen der Verschleierung von Teilen seines Vermögens in einem Insolvenzverfahren hat eine Geschworenenjury Boris Becker in vier von 24 Anklagepunkten schuldig gesprochen. Nun steht auch das Strafmaß fest: Becker ist zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Er hatte die Vorwürfe stets zurückgewiesen und kann noch Berufung einlegen. Seine Strafe musste Becker unmittelbar antreten. Über einen Mann zwischen zu frühem Erfolg, Höhenflug, Naivität und Trotz.
17.26 Uhr ist es am 7. Juli 1985, als Boris Becker sich auf ewig einfräst ins Sportgedächtnis der Welt. Er, 17 Jahre alt, ungesetzt, Newcomer, hat grade zwei Matchbälle im Wimbledon-Endspiel gegen Kevin Curren vergeben, einer bleibt ihm noch. Becker federt vor dem Aufschlag, wie er es immer tut, er verlagert das Gewicht vom vorderen auf den hinteren Fuß und zurück. Er schlägt auf, Curren erwischt den weißen Tennisball nur mit dem Rahmen, und es ist geschafft. Becker reißt die Arme hoch, trippelt auf der Stelle, schaut gen Himmel.
6:3, 6:7, 7:6, 6:4, so endet die Partie an diesem Tag, und mit ihr endet endgültig Beckers Privatheit. Angst habe er nicht, hatte Becker damals, vor dem großen Finale gegen Curren gesagt. Heute, rund 37 Jahre später, ist der Gegner längst kein sportlicher mehr: Becker wurde von einer Geschworenenjury in einem Insolvenzverfahren in vier Punkten schuldig gesprochen. Das Strafmaß wird am 29. April verkündet. Wie verhält es sich da mit der Angst? „Habe ich großen Respekt davor? Ja. Bin ich angespannt? Ja. Bin ich manchmal auch nervös? Ja. Aber ich bin nicht panisch“, sagte Becker dazu im Februar der „Bild am Sonntag“.
Boris Becker und Steffi Graf sorgen für einen Tennis-Hype
15 Jahre lang, von 1984 bis 1999, prägt Becker die Tennis-Weltklasse entscheidend: Er gewinnt 49 Turniere im Einzel, darunter allein sechs Grand-Slam-Turniere, und 15 im Doppel, zwölf Wochen lang führt er die Tennis-Weltrangliste an, bis heute ist er der jüngste Wimbledon-Sieger in der Geschichte des Turniers. Boris Becker und Stefanie Graf sorgen durch ihre Erfolge dafür, dass ganze Heerscharen in Deutschland Tennis spielen wollen.
1989, in dem Jahr, in dem Becker und Graf beide in Wimbledon gewinnen, verzeichnet der Deutsche Tennis Bund (DTB) erstmals zwei Millionen Mitglieder, 1994 sind es ganze 2,3 Millionen. TV-Sender reißen sich förmlich um die Übertragungsrechte – Tennis ist hip und seine beiden erfolgreichsten deutschen Vertreter gleich mit.
Und das, obwohl beide als so verschieden gelten: Graf, so heißt es, sei eher unterkühlt, rational, beherrscht, Becker hingegen knallt regelmäßig sein Herz auf den Platz. Er schimpft wie ein Rohrspatz, wirft seinen Schläger, er hadert laut mit sich und seinem Spiel, wenn es nicht läuft. Becker ist immer „all in“, bekannt für Becker-Hecht und Becker-Faust und für eine ungezügelte Wildheit auf dem Platz. Dass ausgerechnet er Wimbledon, wo alles sehr weiß, sehr britisch, leicht zugeknöpft und gesittet zugeht, als sein Wohnzimmer bezeichnet, mutet geradezu bizarr an.
Boris Becker: „Ich war nie euer Boris”
Zur Tennis-Hochzeit spricht und schreibt man praktisch nur von „Boris“ und „Steffi“, gerade so, als würde man über die lieben Nachbarn oder Freunde sprechen, die man wirklich gut kennt. Deutschland hat seine sportlichen Helden. Für Michael Wech, der den Dokumentarfilm „Der Spieler“ gedreht und Boris Becker dafür ein Jahr lang begleitet hat, beginnt mit dem Wimbledon-Sieg auch die Vereinnahmung als „unser Boris“. „Seit über 30 Jahren lebe ich öffentlich. Dafür zahlt man einen Preis“, sagt Becker in dieser Dokumentation. Und: „Ich war nie euer Boris.“
Der Preis, den Becker zahlen muss: Die Welt interessiert sich längst nicht nur für seine sportlichen Erfolge, sondern immer auch für sein buntes Privatleben. Für die Hochzeit mit Barbara Feltus ebenso wie für die Trennung von ihr, für den Seitensprung mit Model Angela Ermakova und die Frage, wann und wo Tochter Anna gezeugt wurde, für Kurzfrist-Beziehungen mit Rapperin Sabrina Setlur und Sandy Meyer-Wölden, für Verbal-Schlammschlachten mit Oliver Pocher oder seine Ehe mit Lilly Becker.
Dass es auch anders geht, zeigt Stefanie Graf: Auch sie hat in ihrer aktiven Zeit zu kämpfen gehabt mit der deutschen Presse und Öffentlichkeit, mit der Dauer-Belagerung und der Berichterstattung über den Steuerskandal um ihren Vater Peter. Anders als Becker hat sie sich nach ihrem Karriereende komplett zurückgezogen. Sie lebt in Las Vegas mit Mann Andre Agassi und Familie, gibt kaum Interviews, taucht so gut wie nie auf roten Teppichen auf, sucht die Bühne nicht.
Boris Becker berichtet im TV über Seitensprung
Ganz ohne Blitzlicht will Becker, selbst wenn er hadert, auch nicht. Zwar ist der gebürtige Leimener weiter im Themenfeld Tennis unterwegs, schreibt für „Handelsblatt“ oder „The Times“ und kommentiert (hervorragend übrigens!) für die BBC und Eurosport, rund drei Jahre trainiert er Novak Djoković und führt ihn zu sechs Grand-Slam-Siegen.
Aber er lässt die Öffentlichkeit durchaus auch aktiv an seinem Privatleben teilhaben: So spricht er in einer ihm gewidmeten Folge der Fernseh-Talkshow „Piers Morgan’s Life Stories“ über den Seitensprung mit Ermakova und erzählt, der Zeugungsort sei eine Treppe zwischen den Toiletten des Londoner Nobelrestaurants Nobu gewesen. Die Exklusivrechte an den Bildern der Hochzeit Beckers mit dem niederländischen Model Sharlily „Lilly" Kerssenberg gehen an ein Magazin und einen Fernsehsender. Becker pokert im deutschen Fernsehen, nimmt an TV-Quizzen und Unterhaltungsformaten teil, macht in TV-Werbespots sogar Witze über seine Geldprobleme.
Was die Finanzen angeht, wird es spätestens 2002 offenkundig schwierig. In dem Jahr verurteilt das Landgericht München Becker wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Ihm wird eine Geldstrafe von 300.000 Euro aufgebrummt, zudem muss er 200.000 Euro an verschiedene karitative Einrichtungen überweisen. Sein Anwalt Jörg Weigell erklärt damals, Becker hätte es nicht darauf angelegt, das Finanzamt zu betrügen, seine Berater hätten das gemacht - Becker selbst habe sich nur ums Tennisspielen gekümmert.
„Ich bin durch das Wimbledon-Tor gegangen und alle wussten es”
2017 erklärt die britische Justiz Becker für zahlungsunfähig, es ist kurz vor Beginn von Wimbledon. „Wie Sie sich vorstellen können, war ich darüber schockiert, weil weltweit darüber berichtet wurde. Und ich bin durch das Wimbledon-Tor gegangen und alle wussten es", sagt der 54-Jährige heute über seine Bankrotterklärung 2017. Er habe sich geschämt. Was an vollständiger Einsichtigkeit zweifeln lässt: Becker wirft der britischen Justiz vor, durch die Veröffentlichung die Marke „Boris Becker“ beschädigt und indirekt mit dafür gesorgt zu haben, dass er in der Folge nicht mehr ausreichend Geld verdienen konnte, um seine Schulden abzutragen.
Fünf Jahre lang läuft das Insolvenzverfahren gegen Boris Becker, immer wieder verzögert sich das Ganze. Teils aus geradezu bizarren Gründen: Im April 2018 teilt Becker mit, er sei von der Zentralafrikanischen Republik zum Sonderattaché für Sport und kulturelle Angelegenheiten in der Europäischen Union ernannt worden – und beruft sich gar auf diplomatische Immunität.
Im April 2022 sprechen die Geschworenen Becker in London dann im Prozess wegen Insolvenzvergehen in vier von 24 Anklagepunkten schuldig: Unter anderem geht es um Nicht-Offenlegung von Besitztümern sowie Verschleierung von Schulden. Der Ex-Tennisprofi bestreitet alle Vorwürfe - und wird am Freitag doch zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt.
25 Millionen Euro an Preisgeldern erspielte der Tennisstar in seiner aktiven Zeit, heißt es, hinzu kam Geld aus etlichen Werbeverträgen. „Aber wohl alles ist inzwischen ausgegeben, verkauft: seine Mercedes-Autohäuser in Mecklenburg-Vorpommern, sein Appartement in London, in dem seine Tochter Anna Ermakova wohnt, seine Finca auf Mallorca, sein Appartement in Leimen, in dem er als Junge noch wohnte, und das er angeblich vergessen hatte, bis sich zu seiner Überraschung herausstellte, dass es ihm doch gehörte. Auch sein Elternhaus in Leimen, in dem bis heute seine Mutter Elvira wohnt, steht kurz vor dem Verkauf“, schreibt der „Spiegel“ Anfang April über Beckers Finanzen.
Boris Becker hat Verträge maximal quergelesen
Vor Gericht berichtet Becker laut dem Magazin davon, dass die Zahl seiner Berater über die langen Jahre stetig zugenommen habe, dass sie sich um praktisch alles in seinem Leben gekümmert hätten, dass er ausschließlich fürs Tennisspielen zuständig gewesen sei. Verträge habe er, sagt Becker, meist nur quergelesen, Kreditkartenabrechnungen nie zu Gesicht bekommen, Bargeld sei ihm stets ausgehändigt worden, selbst abgehoben habe er nie welches.
Boris Becker ist viel zu früh – praktisch als Junge - zu großem Erfolg und Geld gekommen, als er noch nicht gefestigt war, noch nicht wissen konnte, wie die Welt funktioniert und dass einem nicht jeder nur Gutes will. Kein Wunder, dass Menschen dann abdrehen. Becker hat es aber, so scheint es, auch über die Zeit nicht geschafft, für Erdung zu sorgen in Anbetracht seines Erfolgs, für die richtigen Berater vielleicht, die besten Ansprechpartner. Dass all das nicht einfach sein dürfte: klar. Dass man es irgendwie versuchen muss: genauso klar.
Becker schien gern auf der Liebeswelle der Deutschen zu surfen, die Bühne zu genießen, die ihm seine sportlichen Erfolge bereitet haben. Dass er dafür einen Preis bezahlt, war ihm bewusst, er sagt es ja selbst – womöglich aber eher theoretisch denn praktisch. Und: Vielleicht hat er nicht begriffen, wie hoch er sein würde.
Und: Erwachsen ist es - natürlich -, ehrlich zu sein, zu dem zu stehen, was er gemacht oder eben nicht gemacht hat. Die gleichen Fehler nicht immer und immer wieder zu machen. So funktioniert das mit der Verantwortung für das eigene Leben. Und Beraterstab hin oder her: Die trägt er selbst. Aber womöglich ist er mit seiner Kommentatoren-Tätigkeit für BBC und Eurosport, in der er seine Tennis-Expertise zeigen kann - und das auch großartig macht -, ja wieder auf dem richtigen Weg.
Superschauspieler oder Supermusiker
Als Becker es ein Jahr nach seinem ersten Wimbledon-Sieg schaffte, das Turnier erneut zu gewinnen, machte er sich in einem „Welt“-Interview Gedanken über seine Zukunft: „Ich möchte nicht mit 50 Jahren rumlaufen und die Leute sagen hören, guck mal, das ist der, der mit 17 in Wimbledon gewonnen hat - vielleicht bin ich mit 50 der Superschauspieler oder der Supermusiker.“
Der, der mit 17 Wimbledon gewonnen hat – vielleicht wäre das aus heutiger Sicht gar keine so schlecht erste Assoziation zu Boris Becker gewesen.