AboAbonnieren

Erdbeben in der TürkeiTrauer, Verzweiflung – und die Angst vor einer neuen Katastrophe

Lesezeit 6 Minuten
Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei wird am Dienstag (6. Februar) in Antakya der Opfer gedacht.

Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei wird am Dienstag (6. Februar) in Antakya der Opfer gedacht.

Ein Jahr nach der verheerenden Erdbebenserie in der Südosttürkei leben immer noch Hunderttausende in Obdachlosenlagern.

Die Rönesans Rezidans war eine der besten Adressen in Antakya, der Hauptstadt der südosttürkischen Provinz Hatay. „Ihre Ecke im Paradies“, so warben die Immobilienentwickler für die Luxusapartments am Inönü-Bulvari. Wer sich eine der 249 Eigentumswohnungen leisten konnte, hatte es zu etwas gebracht. Als am frühen Morgen des 6. Februar 2023 in Antakya die Erde bebte, verwandelte sich die Rönesans Rezidans in eine Todesfalle. Binnen Sekunden kippte der zwölfstöckige Wohnblock um. Mindestens 800 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. 53 Bewohner konnten lebend gerettet werden. 54 Opfer werden bis heute vermisst.

Zwei von ihnen sind die 32-jährige Meryem Özgür und ihre Tochter Esila. Seit einem Jahr sucht Bulut Özgür verzweifelt nach Spuren seiner Frau und seiner Tochter. „Wir wollen, dass die Regierung weiter nach den Vermissten sucht“, sagt Bulut Özgür. Eine Woche nach dem Beben beendeten die Retter die Suche nach Verschütteten. Die Trümmer wurden weggebaggert. Was von der Wohnanlage übrig ist, liegt auf einem Schuttberg 600 Meter entfernt. Dort vermuten Hinterbliebene sterbliche Überreste der Vermissten.

Leichen wurden nach dem Erdbeben in der Türkei nie geborgen

Als in der Hitze des vergangenen Sommers fauliger Gestank aus dem Schuttberg aufzusteigen begann, ließen die Behörden Erde aufschütten. Suna Öztürk vermisst ihre Tochter Tugba Kosar und ihre Enkelkinder. Der dreijährige Mustafa Kemal und der ein Jahr alte Mehmet Akif wurden beim Einsturz verschüttet und nie geborgen. „Wir wollen wenigstens einen Knochen finden, um ihnen ein Grab zu geben“, sagte Suna Öztürk der Zeitung „Gazete Duvar“.

Es war die schwerste Naturkatastrophe in der Türkei seit Menschengedenken: Am 6. Februar 2023 um 4.17 Uhr wurde der Südosten des Landes von einem gewaltigen Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala erschüttert. 65 lange Sekunden bebte die Erde. Elf Minuten später folgte ein zweiter Erdstoß der Stärke 6,7. Während sich die ersten Rettungsmannschaften an die Arbeit machten, folgte um 13.24 Uhr ein dritter heftiger Erdstoß. Er ließ viele Gebäude in sich zusammenstürzen, die durch die vorhergegangenen Beben bereits mürbe waren.

Recep Tayyip Erdogan hält seine Versprechen nach Erdbeben nicht ein

Elf Südostprovinzen mit 14 Millionen Einwohnern waren von der Katastrophe betroffen, ein Gebiet so groß wie die Niederlande und Belgien zusammen. Die Bilanz: 230.000 Gebäude mit 520.000 Wohnungen wurden schwer beschädigt oder stürzten ein. 50.783 Tote wurden aus den Trümmern geborgen, mehr als 125.000 Menschen verletzt. Weitere 8500 Todesopfer forderte die Katastrophe im benachbarten Syrien. In der Türkei wurden 1,9 Millionen Menschen obdachlos, darunter 850.000 Kinder.

Unmittelbar nach der Katastrophe versprach Staatschef Recep Tayyip Erdogan 680.000 neue Wohnungen und Gewerbeimmobilien. Davon sollten 319.000 binnen eines Jahres gebaut werden. Aber bisher wurden erst etwa 45.000 Wohnungen fertig. Noch immer sind nicht alle Ruinen abgerissen. Hunderttausende Menschen leben in Obdachlosenlagern. Viele sind in Wohncontainern untergebracht, in denen es jedoch für die oft kinderreichen Familien viel zu eng ist. Andere Obdachlose hausen in Zelten, die im Winter kaum Schutz vor der bitteren Kälte bieten.

Die zerstörten Wasserleitungs- und Abwassernetze sind vielerorts noch nicht wieder repariert. An ein geordnetes Leben und eine halbwegs normale Wirtschaftstätigkeit ist für die meisten Bewohner noch lange nicht zu denken. Viele verlassen deshalb die Katastrophenregion. Die Provinz Hatay, die am stärksten von der Bebenserie getroffen wurde, hatte vor der Katastrophe 1,7 Millionen Einwohner. Heute sind es nur noch 250 000.

Schlechte Bausubstanz in der Türkei führt zu vielen Erdbeben-Toten

Selbst für eine Erdbebenserie dieser enormen Stärke waren die Zerstörungen ungewöhnlich groß, sagen Experten. Zumal es sich in vielen Fällen um Wohnblocks handelte, die erst vor wenigen Jahren fertiggestellt wurden. In einem Neubaugebiet der Stadt Kahramanmaras stürzten fast alle der 22 Wohnhochhäuser ein. 1400 Bewohner kamen hier ums Leben. Statik und Ausführung der Gebäude entsprachen sichtlich nicht dem Stand der Technik.

Mehr als 200 Bauunternehmer wurden nach dem Beben festgenommen, einige von ihnen am Flughafen Istanbul auf der Flucht ins Ausland. Anfang Januar begann der erste große Prozess. Es geht um den Einsturz des Grand Isias Hotels in Adiyaman. Das Vier-Sterne-Hotel brach binnen zehn Sekunden in sich zusammen. 72 Menschen starben, unter ihnen die Mitglieder von zwei Volleyball-Schulteams aus Nordzypern.

Antakya: Die Geschwister Arzu (l.) und Mehmet stehen am 5. Februar 2024 in den Trümmern der Altstadt von Antakya. Beide waren bei dem Beben vor einem Jahr verschüttet worden.

Antakya: Die Geschwister Arzu (l.) und Mehmet stehen am 5. Februar 2024 in den Trümmern der Altstadt von Antakya. Beide waren bei dem Beben vor einem Jahr verschüttet worden.

Aus der Anklage ergibt sich das Bild eines völlig verpfuschten Baus: Die vorgeschriebenen Bodenuntersuchungen unterblieben, gebaut wurde mit minderwertigem Beton, tragende Säulen wurden später entfernt, um in der Tiefgarage mehr Parkplätze zu schaffen und die Lobby großzügiger zu gestalten. Dann setzte der Hotelbesitzer Ahmet Bozkurt auch noch zwei illegale Stockwerke obendrauf. Einspruch der Behörden gab es nicht, Bozkurt hat enge Verbindungen zur Erdogan-Partei AKP.

Überlebende nach Erdbeben sind wütend

Der Zorn der Überlebenden richtet sich nicht nur gegen gewissenlose Unternehmer, die beim Bau gepfuscht haben. Die Katastrophe wirft auch die Frage auf, ob bei der staatlichen Bauaufsicht parteipolitische Vetternwirtschaft und Korruption im Spiel waren. Aber Ermittlungen gegen Beamte der Bauämter, die unsichere Gebäude genehmigt und abgenommen haben, sind nur mit Zustimmung des Innenministeriums möglich. Und die lässt in den meisten Fällen auf sich warten.

Die Regierung steht in der Kritik. Sie hatte in den vergangenen Jahren Schwarzbauten nachträglich legalisiert, die ohne Baugenehmigung errichtet wurden. Erdogan persönlich brüstete sich mit diesen Amnestien, weil damit dringend benötigter Wohnraum geschaffen werde. Viele dieser Gebäude stürzten bei dem Beben ein und wurden für ihre Bewohner zur tödlichen Falle.

Schutthalden in der Türkei bergen Gesundheitsgefahren

Gefahren lauern auch in den Schutthalden, die sich überall in der Katastrophenregion auftürmen. Viele von ihnen befinden sich in unmittelbarer Nähe von Notunterkünften. Mediziner fürchten gesundheitliche Langzeitschäden durch giftige Stoffe wie Asbest. Die türkische Ärztevereinigung TTB kritisiert, die Trümmer seien ohne Vorsichtsmaßnahmen beseitigt und zu nah an den Unterkünften abgelagert worden.

Der Wiederaufbau wird Jahrzehnte dauern, glauben regierungsunabhängige Fachleute. Und vieles ist für immer verloren. Die Stadt Antakya, das alte Antiochia, war in der römischen Antike die drittgrößte Stadt der damals bekannten Welt nach Rom und Alexandria. Die meisten antiken Baudenkmäler wurden durch das Erdbeben zerstört. Die Stadt gleicht heute in weiten Teilen einer Trümmerwüste.

Erdbeben-Katastrophe in Istanbul erwartet

In die Verzweiflung der Menschen und die Trauer über den Verlust von Freunden und Verwandten mischt sich die Ungewissheit über die Zukunft – und die Angst vor einer neuen Katastrophe. Am 25. Januar um 16.04 Uhr erschütterte ein Beben der Stärke 5,2 die Katastrophenregion. Größere Schäden gab es nicht, aber die Erschütterungen erinnerten die Menschen daran, dass sie auf einer der tödlichsten Bruchzonen des Landes leben, dem ostanatolischen Graben. Der Seismologe Naci Gürör, der in der Türkei als „Erdbeben-Papst“ gilt, rechnet hier jederzeit mit einem neuen schweren Beben der Stärke 7 oder darüber.

Auch im über 1000 Kilometer entfernten Istanbul wächst die Angst vor einer möglichen Katastrophe. Seit Jahrzehnten warnen Geologen vor einem bevorstehenden schweren Erdbeben in der Bosporusmetropole. Denn hier verläuft die nordanatolische Verwerfung, an der die anatolische und die eurasische Kontinentalplatte aufeinandertreffen. Die Bruchzone produziert immer wieder heftige Beben. Das letzte ereignete sich 1999 rund 100 Kilometer östlich von Istanbul bei der Industriestadt Izmit. Fast 19.000 Menschen kamen ums Leben.

Fachleute erwarten, dass sich das nächste große Beben näher an der 16-Millionen-Megacity Istanbul ereignen wird. Es könnte verheerende Folgen haben. Der Geologie-Professor Görür befürchtet, dass 600 000 Gebäude im Großraum Istanbul beschädigt werden oder einstürzen. Die Zahl der Todesopfer könnte in die Hunderttausende gehen.