Klaus Radner verlor beim Absturz der Germanwings-Maschine im März 2015 seine Tochter, seinen Schwiegersohn und seinen Enkel.
Seither kämpft der Unternehmer für Aufklärung.
Warum hat die Fluggesellschaft den psychisch kranken Co-Piloten Andreas L. nicht aus dem Verkehr gezogen?
Düsseldorf – Es habe Tage gegeben, da habe er nicht einmal mehr telefonieren können, sagt Klaus Radner. „Da sind Sie wie tot. Da können Sie nichts mehr sagen, selbst wenn Sie wollen. Sie laufen nur noch als Hülle durch die Welt.“
Der 24. März 2015 ist ein kühler, sonniger Tag. Radner hat an diesem Vormittag eine Besprechung in seinem Büro. Anschließend will er zum Düsseldorfer Flughafen fahren, um dort „die Kinder“ abzuholen. Tochter Maria Radner ist eine weltweit bekannte Opernsängerin. Die 33-Jährige hat bereits im Teatro alla Scala in Mailand und in der Metropolitan Opera in New York auf der Bühne gestanden. Am Vorabend erst hat sie am Gran Teatre de Liceu in Barcelona die Erda in Richard Wagners „Siegfried“ gesungen. An diesem Vormittag will sie mit ihrem Lebensgefährten Sascha Schenk und dem gemeinsamen, 18 Monate alten Sohn Felix zurückfliegen nach Deutschland.
Um neun Uhr startet auf Piste 07R des El Prat Flughafens in Barcelona Flug 4U 9525 Richtung Düsseldorf. Am Steuer: Copilot Andreas L. Der 27-Jährige ist vollgepumpt mit Psychopharmaka, im Papierkorb seiner Düsseldorfer Wohnung liegen mehrere zerrissene Krankschreibungen. Pathologen werden Wochen später Spuren der Antidepressiva Citalopram und Mirtazapin sowie des Schlafmittels Zopiclon in den Resten seines Körpers nachweisen.
Depressionen führen zu einer Katastrophe
L., so steht zu vermuten, hat einen Plan: Er will an diesem Tag gemeinsam mit 144 Passagieren, vier Flugbegleitern und einem Kollegen in den Tod fliegen. Seit Dezember 2014 leidet der Germanwings-Pilot unter einer schweren Depression. Es ist nicht das erste Mal in seinem Leben. Bereits während seiner Ausbildung 2008 in Bremen musste L. monatelang pausieren, um eine psychische Erkrankung auszukurieren. In seinem Tauglichkeitszeugnis, das er jährlich erneuern lassen muss, steht seit Juli 2009 der Hinweis auf eine Sondergenehmigung mit der Nummer FRA 091/09: Sollte der junge Pilot erneut psychische Probleme bekommen, wäre sein Tauglichkeitszeugnis ungültig.
Radner erfährt aus dem Radio vom Absturz
Minuten nach dem Start verlässt Pilot Patrick S. das Cockpit, um zur Toilette zu gehen. 29 Sekunden später beginnt das Flugzeug – unmerklich zunächst – zu sinken. Andreas L. hat die Flughöhe verändert. Von mehr als 11 500 auf 30 Meter. Und: Innerhalb der nächsten fünf Minuten erhöht er peu à peu die Fluggeschwindigkeit des Airbusses. Von 500 auf rund 650 Stundenkilometer.
Als Patrick S. um 9.35 Uhr ins Cockpit zurückkehren will, findet er die Tür verschlossen. L. reagiert weder auf vier mehrere Sekunden lange Cockpit-Signale, mit denen S. ihn zum Öffnen der Tür auffordert, noch auf dessen Rufen und energisches Klopfen. Auch wiederholte Versuche des Flugkontrollzentrums in Marseille und der französischen Luftverteidigung, ihn zu kontaktieren, ignoriert er. Um 9.41 Uhr zerschellt der Airbus an einem Felsgipfel des Massif des Trois-Évêchés bei Prads-Haute-Bléone. Keiner der 150 Insassen überlebt den Crash.
In Radners Büro läuft an diesem Vormittag der Fernseher. Ein deutscher Nachrichtensender. Flüchtig nimmt er während der Besprechung einen Live-Ticker mit einer Eilmeldung wahr: „Flugzeug einer deutschen Airline in den französischen Alpen abgestürzt.“„Ich habe noch gesagt, dass mir das unheimlich leidtut für die Opfer und deren Angehörigen“, erinnert er sich. Dann macht er sich auf den Weg zum Flughafen.
Radio liefert Hiobsbotschaft
Im Autoradio hört er, dass sich die abgestürzte Maschine auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf befunden habe. „Da ahnte ich schon so was und bekam ganz weiche Knie.“ Radner ruft zunächst seine Frau an und bittet sie, wenn möglich weitere Informationen über den Absturz einzuholen. Anschließend wählt er mit zittrigen Fingern die Nummer des Düsseldorfer Flughafens. „Ich habe ihnen meine Vermutung mitgeteilt, dass wahrscheinlich die Kinder in der Maschine saßen.“
Zwei Stunden später sind Radners Befürchtungen zur Gewissheit geworden. „Keine Überlebenden“, meldet der Live-Ticker in dem Betreuungsraum am Flughafen, wo sich eilig herbeitelefonierte Seelsorger um die Angehörigen kümmern.
Schlaf- und sprachlos
In einem Regal in Radners Büro stehen Bilder der kleinen Familie. Eltern und Kind in ihrem Wuppertaler Haus, das sie in Eigenarbeit renoviert haben. Eltern und Kind im Garten. Dieses Foto schmückt auch die gemeinsame Todesanzeige von Maria, Sascha und Felix.
„Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man das Haus seiner Tochter ausräumen muss?“, fragt Radner. „Wenn man vor Kummer nicht mehr denken, nicht mehr schlafen, nicht mehr reden kann?“ Radner ist in ärztlicher Behandlung und nimmt Psychopharmaka. Das hilft. Karen, seine zweite Frau, und einige Freunde, die ebenfalls Kinder verloren haben, seien ihm eine Stütze, sagt er. Andere Bekannte haben sich zurückgezogen. „Nach einer gewissen Zeit hält sich Ihr Umfeld bedeckt. Das ist menschlich, aber wir Angehörigen empfinden das als Totschweigen. Ich glaube, nur wer Ähnliches erlebt hat, kann ermessen, wie groß unser Schmerz ist.“
„Warum ist seine Familie nicht aktiv geworden?
Die größte Katastrophe sei für ihn gewesen zu erfahren, „dass der Absturz eine menschliche Ursache hatte“, sagt Radner. „Dass ein Mensch absichtlich 149 Menschen ermordet, dafür fehlt mir jedes Verständnis.“ In einem Brief an die Lufthansa fragt er: „Wieso werden Piloten der LG Group nicht regelmäßig/unregelmäßig kontrolliert und auf Medikamente, Drogen und Alkohol vor den Starts überprüft?“ Eine Antwort auf diese und andere Fragen erhält er nicht. Ein Gespräch mit einem Vertreter der Lufthansa wird kurzfristig abgesagt, ein neuer Termin nicht angeboten. „Nicht nur ich fühle mich alleingelassen“, sagt Radner. „Wir alle wollen endlich Antworten haben.“
Er hat inzwischen begonnen, selber Nachforschungen über die Hintergründe der Katastrophe anzustellen. „Das bin ich Maria schuldig. Sie hatte einen großen Gerechtigkeitssinn und erwartet von mir, dass ich den Mord an ihrem Sohn aufkläre.“ Die Akten der französischen Staatsanwaltschaft und auch Teile der deutschen liegen ihm vor.
L. schickte Hilferuf an Psychiater
Viele Ärzte konsultierte Andreas L. in den letzten Monaten seines Lebens. Noch zwei Wochen vor der Katastrophe schickte er per Mail einen Hilferuf an den Psychiater in seiner Heimatstadt, der ihn bereits 2008 behandelt hatte. Er leide unter Schlaflosigkeit und Sehstörungen, für die es keine organische Ursache gebe. „Ich bräuchte dringend Hilfe dabei, Schlaf zu finden, den Stress zu reduzieren und für den Moment mit den Augen umgehen zu können.“
Am selben Tag hatte ihm ein weiterer Arzt eine Überweisung für eine stationäre psychiatrische Behandlung ausgestellt. Diagnose: „mögliche Psychose“. Eben dieser Arzt hatte L. bereits Mitte Februar das Schlafmittel Zopiclon verschrieben und ihn zur Behandlung von „psychosomatischen und Angststörungen“ an einen Psychotherapeuten überwiesen.
Viele unbeantwortete Fragen
„Warum hat keiner dieser 41 Ärzte die Zivilcourage besessen, sich an den Arbeitgeber zu wenden und einen psychisch schwer kranken Mann aus dem Verkehr zu ziehen?“, fragt Radner. „Vielleicht hätte ein anonymer Hinweis genügt. Und warum ist seine Familie nicht aktiv geworden?“
Untersuchungsbericht weist Ärzten Mitschuld zu
Auch der Untersuchungsbericht der BEA, der französischen Untersuchungsbehörde für Flugunfälle, der am vergangenen Sonntag in Paris vorgestellt wurde, weist den Ärzten des jungen Piloten indirekt eine Mitschuld an der Katastrophe zu. Akribisch listet er die Arztbesuche des jungen Mannes zwischen Dezember 2014 und dem 18. März 2015 auf. „Keiner dieser Gesundheitsdienstleister informierte eine Luftfahrtbehörde oder irgendeine andere Behörde über die psychische Verfassung des Copiloten“, heißt es in dem 120 Seiten umfassenden Papier. Die Verfasser erwähnen auch, dass es ihnen nicht möglich gewesen sei, die Angehörigen des Copiloten und seine privaten Ärzte zu befragen, „da sie von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machten“.
Und noch etwas anderes macht der Report deutlich: Die Lufthansa wusste spätestens seit April 2009 von der Depression ihres angehenden Piloten und verweigerte ihm am 14. Juli 2009 die Ausstellung eines Tauglichkeitszeugnisses für ein weiteres Jahr. Doch bereits einen Tag später empfiehlt ein Psychiater der Lufthansa, L. das begehrte Zeugnis auszustellen, wenn auch der Sondergenehmigung FRA 091/09. Er stützt sich auf einen Bericht von L.’s Psychiater und ein Telefonat mit seinem Psychotherapeuten. Beide erklären die „schwere depressive Episode“ ihres Patienten für beendet.
Bei den jährlichen Routinechecks wird L. weder von einem Psychiater untersucht noch auf Antidepressiva getestet. Ein solches Verfahren ist schlichtweg nicht vorgesehen. Seine „psychologische und psychiatrische Gesundheit“ sei von den flugmedizinischen Sachverständigen „durch die üblichen Diskussionen und Beobachtungen seines Verhaltens“ beurteilt worden, heißt es in dem Bericht. „Sie hatten keine solchen Anzeichen entdeckt.“
Radner hat sich einer Rechtsklage angeschlossen
Klaus Radner machen solche Aussagen fassungslos. Er hat bei der französischen und bei der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen unbekannt gestellt. „Ich will, dass das Unternehmen und die Menschen, die hinter dieser Katastrophe stehen, zur Verantwortung gezogen werden. Dass sie zu ihrer Verantwortung stehen und endlich Flagge zeigen, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“
Und – er hat sich der Klage von 85 Opfer-Angehörigen gegen das „Airline Training Center Arizona“ bei Phoenix angeschlossen, einer hundertprozentigen Tochter der Lufthansa. Hier wurde Andreas L. von November 2010 bis März 2011 ausgebildet. Und auch hier, so das Argument der Rechtsanwälte, sei seine kürzlich überstandene Depression bekanntgewesen. Die Millionenklage soll am 23. März eingereicht werden, einen Tag, bevor sich der Absturz erstmals jährt.