Hagen – Die Nachricht war brandheiß: Am Mittwoch erreichte die NRW-Sicherheitsbehörden und die landesweite Anti-Terror-Abteilung der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf die Nachricht von einem mutmaßlichen Anschlag auf die Synagoge in Hagen.
Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erfuhr, war ein befreundeter Auslandsnachrichtendienst auf einen brisanten Chataustausch beim Messengerdienst „Telegram“ gestoßen und hatte die hiesige Terrorabwehr über den Bundesnachrichtendienst informiert.
Verdächtiger beschäftigte sich mit Bombenbau
In dem klandestinen Gesprächsforum fabulierte ein 16-jähriger Syrer gegenüber seinem Chatpartner namens „Abu Hab“ über ein Attentat an einem jüdischen Feiertag auf das Gotteshaus. Das Bundeskriminalamt kam zu dem Schluss, dass man diesen Hinweis äußerst ernst nehmen sollte. Zumal wohl Erkenntnisse vorlagen, dass die Familie des Tatverdächtigen sich in radikal-islamischen Salafistenkreisen bewege. Ferner soll sich der Beschuldigte im Netz mit dem Bau einer Bombe beschäftigt haben.
Am Mittwochabend spannten die Staatsschützer den Sicherheitsschirm rund um die Synagoge auf. Schließlich wollte die jüdische Gemeinde in Hagen den höchsten Feiertag Jom Kippur begehen, das Fest der Versöhnung.
Sprengstoffhunde durchsuchten die Synagoge, schlugen aber nicht an. Die Zugänge wurden zeitweilig gesperrt, ein geplanter Gottesdienst vorsichtshalber abgesagt. In der Nacht entspannte sich die Gefahrenlage rund um das jüdische Gebetszentrum. Der massive Polizeischutz wurde heruntergefahren. Es seien vor Ort keine Hinweise auf eine Gefährdung festgestellt worden, teilte die zuständige Behörde in Dortmund mit.
16-Jähriger als Tatverdächtiger festgenommen
Tags darauf nahmen Spezialeinsatzkräfte den 16-jährigen Tatverdächtigen Oday J. fest. Der syrische Flüchtling lebte in der Wohnung seines Vaters. Er soll sich über dessen Account mit einem bisher unbekannten Chatpartner über sein Anschlagsvorhaben ausgetauscht haben.
Vater und Sohn, die 2015 im Zuge der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland kamen, wurden zunächst zur Vernehmung mitgenommen. Nach der Festnahme gab der Jugendliche zu, sich für den Bombenbau interessiert zu haben.
Über Telegram sei er an einen Unbekannten namens Abu Hab geraten. Der Kontakt habe ihm erklärt, wie man einen Sprengkörper bastelt. Zugleich aber beteuerte J., dass er nie einen Anschlag auf die jüdische Einrichtung geplant habe.
Rolle des Chatpartners noch ungewiss
Zunächst wurden auch zwei weitere Brüder des Beschuldigten festgesetzt, die dabei beobachtet wurden, wie sie einen Campingkocher und eine Gaskartusche in einen Wagen mit Osnabrücker Kennzeichen verfrachtet hatten.
Zudem ließ die Generalstaatsanwaltschaft weitere Objekte durchsuchen. Erneut durchstöberten Sprengstoffhunde die Räume. Wie aus Ermittlungskreisen zu erfahren war, fanden sich bisher weder Sprengstoff noch Waffen. Die Beweislage scheint vage zu sein.
Aus der Auswertung des Handys und dem Chatverkehr erhoffen sich die Staatsschützer weitere Aufschlüsse über die Frage, wie ernsthaft die Absichten des Jugendlichen waren. Prahlte da ein pubertierender Antisemit mit seinem Vorhaben, oder war es ihm ernst? Zudem versuchen die Strafverfolger nach wie vor den Chatpartner „Abu Hab“ zu identifizieren und seine Rolle einzuordnen. Gab er etwa das Kommando für einen Anschlag? Oder war es umgekehrt? Wie es hieß, werde man nach den Vernehmungen von Vater und Sohn über den weiteren Fortgang der Ermittlungen entscheiden. Sollten sich nicht weitere Beweise finden lassen, kommen Vater und Sohn wieder frei.
Antisemitische Stimmung macht sich bemerkbar
Bereits im Frühjahr grassierte antisemitische Hetze durch junge Muslime hierzulande im Zuge des Palästina-Konflikts. Dabei wirken wie so oft die sozialen Netzwerke als Radikalisierungsmaschine. Einpeitscher der palästinensischen Terrororganisation Hamas oder dem Islamischen Staats rufen im Netz dazu auf, den Staat Israel und alle Juden weltweit zu vernichten.
Vor dem Hintergrund verabredeten sich damals drei junge Syrer zu einer spontanen Attacke auf die örtliche Synagoge in Bonn. Einer von ihnen ließ mit einem Steinwurf das Glasfenster am Eingangsbereich splittern. Danach fackelten die Angreifer die Fahne des Staates Israel ab. Zeugen alarmierten die Polizei, die kurz darauf die Männer fasste. Das Trio legte ein Geständnis ab. Auch fanden sich am Tatort Zettel mit arabischen Tiraden.
Auf dem Papier war zu lesen: Wer die Aksa-Moschee in Jerusalem angreife, „den greifen wir an.“ Ein klarer Hinweis auf die seinerzeit eskalierenden Kämpfe zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern um das drittheiligste Gotteshaus des Islam auf dem Tempelberg in Jerusalem.
In Münster zündete eine 13-köpfige Gruppe aus Syrern, Irakern, Kosovaren, Türken nebst einem Israeli und zwei Deutschen vor der Synagoge ebenfalls eine israelische Flagge an. In Gelsenkirchen versuchte ein Mob das jüdische Gotteshaus zu attackieren. Nach den Krawallen im Mai wurden 111 Tatverdächtige erfasst. Innenminister Herbert Reul berichtete seinerzeit, dass 36 von ihnen identifiziert worden seien. Der Großteil verfüge über eine arabischstämmige Herkunft.
Die Proteste gegen jüdische Einrichtungen an Rhein und Ruhr ließen im ersten Halbjahr 2021 die Zahl der antisemitischen Straftaten auf 206 Fälle hochschnellen. Dabei ging es vor allem um Volksverhetzungs-, Beleidigungs- und Propagandadelikte, aber auch um Sachbeschädigung, Bedrohung und in drei Fällen um Körperverletzung. Etwa die Hälfte der Taten sei von Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum verübt worden, 70 Fälle seien dem „Phänomenbereich ausländische Ideologie“ zuzuordnen, so das Ministerium. Im gesamten Vorjahr ereignete sich insgesamt 276 Taten.
Laut einer Studie des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) aus dem vergangenen Jahr stammen viele arabische Zuwanderer „aus Ländern, in denen antisemitische Einstellungen seit vielen Jahrzehnten alltäglich sind und auch von Regierungen propagiert werden“. Im Falle einer gescheiterten Integration in Deutschland, warnen die BfV-Analytiker, „konnte die antisemitische Prägung vieler Flüchtlinge einen Ansatzpunkt für eine islamistische Radikalisierung darstellen.“
„Der Kölner Rabbiner zieht in der Straßenbahn seine Kippa nicht mehr auf“
Der ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck spricht von einem „erschütternden Vorgang“ in Hagen „der zeigt, dass wir Antisemitismus von Rechtsextremisten und Islamisten ernst nehmen müssen.“ Demnach sei man unfähig, mit dem Thema Antisemitismus bei manchen jungen Muslimen vernünftig umzugehen, „weil die AfD das für ihren Rassismus instrumentalisiert“, so Beck. „Das führt bei einigen Demokraten zu dem falschen Reflex, über das Thema nicht ausreichend zu reden und es somit auch nicht anzupacken“.
Man müsse sich mit dem Islam stärker so auseinandersetzen, wie man es früher auch mit Organisationen in der katholischen Kirche gemacht habe: „Da haben wir auch kein Blatt vor dem Mund genommen und Piusbrüder, Antisemiten sowie Antidemokraten angegriffen, ohne alle Katholiken unter Generalverdacht zu stellen“, erklärte Beck, der bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2017 der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe vorsaß.
Er habe mit Schrecken von dem mutmaßlich geplanten Anschlag in Hagen erfahren, sagte auch Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Er teile Laschets Aufforderung, man müsse Terroristen konsequent abschieben. „Aber dann soll er als Ministerpräsident seine Behörden anweisen, das endlich mal zu tun“, so Wilhelm. „Wir haben ein Handlungsdefizit.“ Die Gefahr, der Jüdinnen und Juden in Deutschland durch Rechtsextremismus und Islamismus ausgesetzt sei, schätzt er höher ein als noch vor einigen Jahren. „Der Kölner Rabbiner zieht in der Straßenbahn seine Kippa nicht mehr auf, weil er mehrfach angepöbelt worden ist“, sagt Wilhelm. „So fängt es an und mit Anschlägen auf Synagogen und Menschen hört es auf.“