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Fehlentwicklungen des FötusExperten fordern verpflichtende Beratung für Schwangere

Lesezeit 5 Minuten

Viele Schwangere fragen sich: Wie reagiere ich, wenn mein Kind krank zur Welt kommt?

Köln – Seine Umgebung, erinnert sich Jörg Oliver Semler, sei mit seiner Krankheit relativ entspannt umgegangen. „Der Arzt sagte: Wenn was bricht, kommt ein Gips drum. Die Klassenkameraden stritten sich darum, wer als erster was drauf schreiben darf, wenn ich mal wieder mit einem Gipsverband in die Schule kam.“ Hinter dem Facharzt für Kinder- und Jugendmediziner liegen 27 Operationen. Zwei bis drei Mal im Jahr brach ein Knochen, der erste, als er zwei Tage alt war, der letzte, als er in die Pubertät kam.

„Ich wäre vielleicht nicht geboren“

Semler, Leiter des „Zentrums für seltene Skeletterkrankungen“ an der Kölner Universitätsklinik, leidet an der Glasknochenkrankheit. Bis zum Eintritt in die Pubertät splittern die Knochen schon bei geringer Belastung, als seien sie aus Glas. Man könne mit dieser Krankheit durchaus leben, versichert Semler. Er sagt auch: „Hätte es vor 40 Jahren bereits die Pränataldiagnostik gegeben, wäre ich vielleicht nicht geboren worden.“

Und genau deswegen macht er sich stark für einen innovativen Ansatz in der Betreuung von Schwangeren: Semler plädiert dafür, „dass zwingend ein fachgebildeter Kinderarzt hinzugezogen wird, wenn der Frauenarzt feststellt, dass mit dem Kind irgendetwas nicht stimmt“. Sein Argument: Ein Pädiater könne die Zukunftschancen des Kindes besser beurteilen als ein Frauenarzt oder Pränataldiagnostiker, also jemand, dessen Aufgabe sich weitgehend auf das Aufspüren von Fehlentwicklungen des Fötus beschränkt. „Ein kinderärztlicher Spezialist hingegen weiß, wie die diagnostizierte Krankheit verlaufen wird und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.“

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Spezielle Beratung soll nicht frei wählbar bleiben

Semler steht mit dieser Meinung nicht allein. Beim Deutschen Ärztetag in Hamburg 2016 forderten Vertreter der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin“ und der „Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin“, bei „Aufdeckung drohender chronischer Erkrankungen oder schwerer Fehlbildung des Feten im Rahmen der Pränataldiagnostik“, verpflichtend „einen in dieser Erkrankung erfahrenen Kinder- und Jugendarzt bzw. Kinderchirurgen“ hinzuzuziehen.

Aufgrund der hoch spezialisierten postnatalen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, so heißt es weiter in dem Entschließungsantrag, sei „das konkrete Wissen, das für eine Beratung von Schwangeren mit betroffenen Feten notwendig ist, nicht ausreichend bei der Berufsgruppe der Pränataldiagnostiker und Humangenetiker zu finden“. Semler formuliert das einfacher: „Die Kollegen treffen eine Aussage über etwas, das definitiv nicht ihr Fachgebiet ist.“

Kölner Klinik-Direktor unterstützt gesetzliche Regelung

Auch Jörg Dötsch, Direktor der „Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin“ an der Uni Köln, befürwortet die Einbeziehung von spezialisierten Kinderärzten in die Schwangerschaftsberatung, wenn es Hinweise auf eine Erkrankung des ungeborenen Kindes gibt, und plädiert für eine entsprechende gesetzliche Regelung. „Die Eltern müssen zwingend die Möglichkeit haben, nicht nur mit einem Spezialisten für die Diagnose, sondern auch für die Therapie zu reden.“

Die Kölner Ärzte Jörg Oliver Semler (l.) und Jörg Dötsch.

Besser noch, wenn im Fall der Fälle ein Team, bestehend aus einem Frauenarzt, einem Pränataldiagnostiker, einem Genetiker und einem spezialisierter Frauenarzt, zusammenarbeiteten. „Es geht schließlich um ein Leben. Da ist ein Aufwand von vier Personen nicht zu groß.“

Viele Paare, so seine Erfahrung, entschlössen sich vorschnell für eine Abtreibung, weil das auf den ersten Blick der leichtere Weg zu sein scheine. „Doch welche Entscheidung sie auch treffen – sie wird ihr ganzes restliches Leben beeinflussen.“

Fundierte Entscheidung soll möglich sein

„Wir sprechen uns nicht dafür aus, dass in bestimmten Fällen Schwangerschaftsabbrüche vollzogen werden“, stellt Dötsch klar. „Wir wollen, dass die Eltern so gut über alle Möglichkeiten informiert sind, dass sie eine fundierte Entscheidung treffen können, egal, wie die letztendlich ausfällt. Sie müssen wissen: Wird dieses Kind atmen können? Welche Überlebenschancen hat es, welche Therapiemöglichkeiten gibt es.“ Und, ganz entscheidend: „Wie wird das Leben der Familie langfristig aussehen, wenn es sich für das Kind entscheidet?“

Mehr Abtreibungen

3879 Kinder wurden in Deutschland 2015 aufgrund einer medizinischen Indikation abgetrieben. Bei der Mehrzahl von ihnen war den Expertenangabe zufolge ein Down-Syndrom diagnostiziert worden.

3100 waren es fünf Jahre zuvor.

Bislang liegt die Beantwortung dieser und anderer Fragen weitgehend in den Händen von Schwangerschaftskonflikt-Beratungsstellen und Zentren wie der „Evangelischen Beratungsstelle für Schwangerschaft, Sexualität und Pränataldiagnostik“ des Diakonischen Werks Bonn. Die Beratung ist - ebenso wie alle pränatalen Untersuchungen – freiwillig und kostenlos. „Wir begleiten den Zeitraum der Entscheidungsfindung der Paare“ so beschreibt Andrea Lips von der Evangelischen Beratungsstelle den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit. Sie arbeitet mit einer Kollegin in einer Außenstelle der Diakonie an der Universitätsklinik Bonn. Eine vergleichbare Kooperation zwischen einer Krankenhaus und einer Beratungsstelle gibt es außer in Bonn nur noch in Essen.

„Vor allem ist es ein Menschenrechtsproblem“

Es gehe zunächst darum, dem Paar jenseits der medizinischen Informationen Zeit und Raum zu geben, über die Bedeutung der Diagnose nachzudenken, so Lips. „Wie soll es damit umgehen? Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es, wenn die Frau das Kind austrägt?“ Die Beratungsstelle vermittelt außerdem Kontakte zu Selbsthilfegruppen, Frühförderstellen und anderen betroffenen Eltern. „Unsere Arbeit zielt vor allem in Richtung Hilfe, Unterstützungsmöglichkeiten.“

Ein Ansatz, den auch der „Allgemeine Deutsche Behindertenverband“ begrüßt. „Behinderung ist kein medizinisches Problem, sondern vielleicht ein psychologisches oder soziales. Vor allem ist es ein Menschenrechtsproblem“, betont der Verbandsvorsitzende llja Seifert. „Betrachtet man das Geborenwerden mit einer Behinderung als den Beginn eines lebenslangen Leidens oder als den Beginn eines Lebens, das mit Höhen und Tiefen, mit Schmerzen und mit Freude verbunden ist?“ Von dem Vorstoß der Kinderärzte, auch spezialisierte Pädiater in die vorgeburtlichen Untersuchungen einzubeziehen, hält er wenig. „Eine weitere Medizinisierung ist aus unserer Sicht nicht erstrebenswert. Wir halten es für wichtiger, von selber Betroffenen aufgeklärt zu werden.“