Besuch am Tagebau GarzweilerKlimaaktivistin Luisa Neubauer will die Dörfer verstehen
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Klimaaktivistin Luisa Neubauer hat das Rheinische Braunkohlerevier besucht. In Keyenberg hat sie Dorfbewohner getroffen, um zu erfahren, wie es sich in einem Ort lebt, der nicht mehr gewollt ist.
Dabei geht es den Keyenberger nicht in erster Linie um den Klimaschutz. Es geht um Eigentum und Heimat.
Dennoch lassen sich die Interessen der „Fridays for Future“-Bewegung mit denen der Dorfbewohner vereinbaren. Eine Reportage aus Keyenberg.
Keyenberg/Köln – „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien“ schallt es im Chor über den Innenhof des alten Bauernguts. Die Sonne strahlt zwischen den Dächern auf das Pflaster. Zwischen hohen Backsteinwänden, einem schwarzen Trampolin und dem großen Eingangstor aus Holz steht die Geburtstagstafel von Kathi Winzen. 76 Jahre wird sie heute. Auch sie strahlt über das ganze Gesicht. Bestes Geburtstagswetter. Zu ihrem Ehrentag gratulieren in diesem Jahr nicht nur die zehn Kinder und Enkel, mit denen sie hier lebt, sondern auch einige andere junge Leute.
Viele von ihnen kennt Kathi Winzen, sie sind Freunde der Familie. Eine von ihnen ist aber zum ersten Mal auf dem Familienhof: Es ist Luisa Neubauer. Höflich beugt sich die 24-jährige Klimaaktivistin nach vorne, um den Corona-Abstand zu wahren und trotzdem den Strauß roter Gerbera überreichen zu können, der mit Eukalyptusblättern gespickt ist. „Happy Birthday“ steht auf der Glückwunschkarte.
Luisa Neubauer ist das Gesicht der deutschen Klimaschutzbewegung von „Fridays for Future“ und zu Besuch in Keyenberg, einem der acht Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier, die bald den Baggern von RWE zum Opfer fallen sollen. Die Tagebau-Kante ist nur wenige Meter vom Hof der Winzens entfernt. Nachts können sie die Bagger hören, wenn der Wind entsprechend steht, sagen sie.
Vor zwei Wochen war Neubauer zum ersten Mal in den „Dörfern“, wie Berverath, Kuckum, Lützerath, Oberwestrich, Unterwestrich, Manheim, Morschenich und Keyenberg oft zusammengefasst werden. Am 30. August nahm sie an einer Demonstration am Tagebau Garzweiler teil, organisiert von der Initiative „Alle Dörfer bleiben“, „Fridays for Future“ und anderen Gruppen. Dort sprach sie vor rund 3000 Teilnehmenden, die sich für den Erhalt der Dörfer einsetzten und lernte Aktivistinnen und Aktivisten kennen, deren Alltag vom Tagebau Garzweiler und dem Kampf gegen die Kohle geprägt ist.
Eine von ihnen ist Christina Schliesky, die die „Fridays for Future“-Gruppe in Hochneukirch gegründet hat. Die 16-Jährige lebt schon ihr Leben lang mit dem Blick auf den „Riss in der Erde“, wie sie den Tagebau nennt, mit dem ständigen Kohlestaub auf ihren Fenstern. Auf den ersten Blick scheint sie etwas unscheinbar, die braunen Haare fallen ihr ins Gesicht. Doch ihr Blick ist entschlossen: Sie kämpft für den Erhalt ihrer Heimat, die sie an diesem Wochenende Luisa Neubauer zeigen will. Zusammen mit David, Britta, Momo und Kathrin streifen sie durch die Dörfer, sprechen mit verbliebenen Einwohnern wie der Familie Winzen, organisieren eine Podiumsdiskussion - hier sind alle per Du, alle kämpfen für die gleiche Sache, auch wenn jeder in einem anderen Bündnis aktiv ist.
Von Berlin nach Keyenberg
Der Besuch im Rheinischen Revier Ende August hat Luisa Neubauer beeindruckt. „Wir reden immer davon, dass der Klimawandel die Lebensgrundlage der Menschen im globalen Süden bedroht. Aber hier werden Lebensräume zerstört, mitten in Deutschland.“ Die Kohlebagger bedrohen eben nicht nur das 1,5 Grad-Ziel, sondern auch die Heimat der Dorfbewohner: der Metzger ist schon lange weg, auf dessen Schaufenster-Scheiben hat jemand „Alle Dörfer bleiben“ in den Staub geschrieben. Der Gasthof ist verwaist, genauso zeigt das Schild zum Getränkemarkt ins Leere. Doch ob mit oder ohne Leben in den Straßen Keyenbergs: „Das Dorfleben können sich viele Leute in der Stadt nicht vorstellen“, sagt Neubauer im Hof der Winzens. Und hier sterbe das Dorf aus. Der Grund sei die „fossile Wunde“ direkt vor der Tür des Ortes. Sie spricht leise, aber bestimmt: „Ich wollte genauer verstehen, was hier passiert. Deshalb bin ich nochmal hierher gekommen.“
Jetzt sitzt sie bei Familie Winzen am Geburtstagstisch von Oma Kathi und wärmt sich die Hände an der Kaffeetasse. Es ist frisch im Schatten. Der 55-jährige Norbert Winzen gibt der Klimaaktivistin einen Überblick über die Geschichte Keyenbergs, währenddessen der Kirschkäse- und Apfelkuchen aufgetischt wird. Sofort stürzen sich die Wespen auf die Teller.
Zuhause in Berlin organisiert Neubauer normalerweise Klima-Proteste mit tausenden oder gar zehntausenden Teilnehmenden. Das sind keine Größenordnungen für Keyenberg. Rund 80 Prozent der ursprünglich 850 Einwohner Keyenbergs haben den Ort bereits verlassen. Nur wenige halten den Widerstand gegen die Bagger aufrecht, wollen ihre Grundstücke nicht an RWE verkaufen. „Wir sind nicht gewöhnt zu demonstrieren“, sagt Norbert Winzen. „Wir sind nicht Berlin.“
Dabei müssen die Keyenberger ihre Kraft nicht klein reden. Ihr Widerstand ärgert immerhin den Energieriesen RWE bereits einige Jahre. Und sie wollen auch weiter standhaft bleiben, sich nicht unterkriegen lassen, weiter Kundgebungen und Mahnwachen abhalten. Norbert Winzen erzählt, dass seine Familie vor rund 60 Jahren schon einmal umsiedeln musste, damals fiel ihr Heimatort Königshoven den Kohlebaggern zum Opfer. 20 Jahre später wurde bekannt, dass auch unter Keyenberg das schwarze Gold liegt. Luisa Neubauer atmet hörbar aus. Immer wieder tippt sie Notizen in ihr Smartphone. Hakt nach. Hört zu.
„Wer sich hier auf dem Hof umsieht versteht, warum wir nicht wegwollen“, sagt Winzen. „Wir sind zwangsläufig zu Klimaaktivisten geworden.“ Die Verfeuerung der Braunkohle ist zwar einer der Gründe, warum sich unser Klima immer wieder erhitzt, aber diese Tatsache stand viele Jahrzehnte in Keyenberg nicht im Vordergrund. Es ging um Eigentum. Und Grundrechte. Um Heimat.
„Hier wird Eigentum auf eine aggressive und psychologisch perfide Art enteignet“
Das wird auch Luisa Neubauer klar, die plötzlich ausholt: „Hier geht es um menschenrechtliche Fragen. Hier wird Eigentum auf eine aggressive und psychologisch perfide Art enteignet. Als ob RWE ein Siedler-Spiel arrangiert - und die Dörfer sind Gallien, in dem sich einige Einwohner weigern nachzugeben.“ Sie überlegt. „Ist es da nicht überheblich, dass wir hierher kommen und die Dörfer mit der Klimakrise verknüpfen? Wenn im Tagebau keine Kohle abgebaut würde, wären wir nicht hier - und ihr müsstet trotzdem umgesiedelt werden.“ Norbert Winzen lacht und winkt ab. Ein eherner Gedanke, wie er findet, aber: „Ich lasse mich gerne vor diesen Karren spannen. Mit meinem Hausverkauf würde ich den Klimawandel befördern und dazu will ich keinen Beitrag leisten müssen.“
Unterdessen kurvt hinter der Geburtstagstafel eine Nichte von Norbert Winzen in einem Kettcar über den Hof und zieht den Familienhund in einem Anhänger. Hinter den 160 Jahre alten Backsteinmauern halten die Winzens Pferde und Hühner. Eine Idylle, die nur schwer zu ertragen ist mit dem Wissen, dass sie nur noch zwei Jahre währen soll - maximal. An nur wenigen Orten im Rheinland werden so viele Konfliktlinien deutlich wie hier. Bagger gegen Häuser, Energieriesen gegen Menschen, Heimat gegen Zukunft. 2023 soll kein Keyenberger mehr im Dorf leben, wenn es nach RWE und der Politik geht.
Kurze Zeit später steht Luisa Neubauer an jener „fossilen Wunde“, die Keyenberg bedroht. Sie blickt an der Aussichtsplattform Hochneukirch auf das riesige Loch. Der Tagebau, bis zu 210 Meter tief, schillert in den verschiedensten Braun- und Schwarz-Schattierungen. Die Bagger fressen sich unermüdlich in die Tiefe, schaufeln Sand, Kies und Kohle aus dem Boden. Im Hintergrund drehen sich die Windräder - paradoxer geht es kaum. Die alte und die neue Welt, sie liegen oft näher beisammen als vermutet.
Links am Horizont ragen die Kraftwerke Neurath und Niederaußem in den Himmel, deren Kühltürme weißen Wasserdampf ausspucken. Rechts spinkst der Keyenberger Kirchturm über die Kante des Tagebaus. Er scheint nur einen Steinwurf entfernt. Vor dieser Kulisse treffen Luisa Neubauer und Christina Schliesky weitere lokale „Fridays for Future“-Mitglieder. Sie wollen gemeinsam Fotos machen, um für den globalen Klimastreik am 25. September zu mobilisieren. Corona-Ellenbogen zur Begrüßung, die Augen lächeln über den Mundschutzen. Sie schwingen grüne Fahnen mit dem „Fridays for Future“-Logo, halten ein gelbes „Alle Dörfer bleiben“-Banner in die Höhe. Die Sonne brennt unerbittlich auf die Kohlegrube. Die eigentlich gemessenen 23 Grad fühlen sich hier um einiges heißer an.
Vor dieser Kulisse kann der Klimaaktivismus schnell frustrierend wirken. Die Faktenlage spricht für die Argumente der Klimaschützer, die Kohle hat ausgedient, die Dörfer könnten bleiben, klimafreundlichere Möglichkeiten Strom zu erzeugen sind vorhanden. In der Runde in Keyenberg herrscht Einigkeit: In vielerlei Hinsicht fehle es an politischem Willen und Durchsetzungskraft gegen diverse Lobbygruppen, die am fossilen Tropf hängen. „Aus dieser Frustration entsteht ein Kampfgeist, und der treibt uns an“, fasst Christina Schliesky zusammen. „Es ist alternativlos.“ Es sei nun auch nicht so, als ob sie gerne Vollzeit-Klimaaktivistin sei, ergänzt Luisa Neubauer. „Wir machen das, weil es sein muss; nicht weil uns nichts besseres einfallen würde, was wir tun könnten.“