Bad Münstereifel – Seit das große Wasser über ihr Dorf kam, Häuser zerstörte, Menschen wie Spielfiguren mit sich riss, wird Amely Noll in der Nacht von Alpträumen heimgesucht. An zwei kann sich das Mädchen, gerade mal neun Jahre alt, besonders gut erinnern. In dem einen steigt das Wasser, steigt und steigt, und ihre zwei kleinen Brüder und Fenja, der Riesenschnauzer, seit drei Jahren treuer Begleiter der Familie, ertrinken vor ihren Augen.In dem anderen, auch ein Alptraum, aber ein lustiger, wie sie sagt, fahren sie mit einem Auto durch die Fluten. Als das Wasser zu hoch wird, fährt es seine Flügel aus, Familie Noll hebt ab und fliegt einfach davon. Im Supermann-Auto. Nichts mehr kann ihnen das Wasser anhaben.
Amely spricht über die „Nacht des großen Wassers“
Amely, rotwangig, das Gesicht mit Sommersprossen getupft, steht im Erdgeschoss des Hauses in Iversheim, ein Stadtteil von Bad Münstereifel, etwa 1500 Einwohner. Das Mauerwerk hinter ihr sieht aus, als hätte man einen Brausewürfel entzweigebrochen. Backsteine ragen heraus, Leitungen hängen herab. Auf einem Bänkchen steht eine Werkzeugkiste, auf dem Boden eine Box mit Schrauben, weiter hinten im Raum, der mal Küche und Wohnzimmer war, liegen auf zwei Ständern hellbraune Holzdielen.
Mitten in der Baustelle steht Amely und trägt die beiden Alpträume vor wie Gedichte in der Schule. Der Rücken ganz grade, die Hände vor dem Bauch verschränkt. Die Mutter lächelt gütig. Amely ist stolz, dass sie endlich frei über die Nacht des großen Wassers sprechen kann. Die Flut, die so viel Leid und Zerstörung brachte, aber auch, wie die Leute hier erzählen, so viel Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft zutage förderte wie selten etwas in der jüngeren Geschichte von Bad Münstereifel und Umgebung.
Das große Wasser, es kommt am 14. Juli 2021 über die Eifel und das Ahrtal. Hoch oben über dem hügeligen Land mit all den Vulkankegeln und Weinbergen hat sich ein Regenband gebildet, das selbst erfahrene Meteorologen nur selten zu Gesicht bekommen. Stundenlang schüttet es, als würde eine ganze Armee von oben mit riesigen Eimern Wasser auf das Land gießen.
182 Menschen sterben in den Fluten, 48 davon in NRW. Die Leiche einer vermissten Frau wird wenige Wochen später in Rotterdam gefunden. Im rheinland-pfälzischen Sinzig ertrinken zwölf Bewohner eines Hauses für Menschen mit Beeinträchtigungen. Ganze Landstriche werden zum Versicherungsfall.
50.000 Autos Schrott
Mit 8,2 Milliarden Euro Schaden bundesweit ist es die teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik. Tonnenweise Blech türmt sich auf Straßen, Gleisen, sogar Bäumen. Nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft gehen allein 50.000 Autos zu Schrott mit einem Gesamtwert von 450 Millionen Euro. Im Ausland wundert man sich, warum eine hoch entwickelte Industrienation im Herzen Europas von einem Starkregen überrascht wird wie von einem Meteoriteneinschlag.
Später, in der politischen Aufarbeitung, werden Experten sagen, man hätte die Flut kommen sehen können. Sie sagen, niemand hätte sterben müssen, hätte man die Warnungen ernst genommen. Vom Klimawandel wird die Rede sein, vom schadhaften Handeln des Menschen, der Flüsse begradigt und Landschaften versiegelt und davon, dass solche extremen Wetterlagen jetzt häufiger über das Land kommen werden.
Minister werden verstörende Sätze sagen, wie den, dass es das Wesen von Katastrophen sei, dass sie nicht vorhersehbar sind. Dass der Mensch Naturgewalten eben ausgeliefert sei. Fast so, als würde oben im Himmel ein strafender Gott sitzen, gegen dessen Zerstörungswut selbst technisch hochgerüstete Sterbliche nichts auszurichten haben und auf den man die meiste Verantwortung abwälzen kann.
Angela Merkel, damals noch ewige Kanzlerin, wird nach Bad Münstereifel reisen, um zwischen Schutt und Schlamm Hoffnung zu verbreiten und finanzielle Hilfen zu versprechen. Der damalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der Merkels Erbe antreten sollte, wird mitten im Bundestagswahlkampf ins Katastrophengebiet fahren und abseits der offiziellen Krisenmimik erwischt, wie er feixt und lacht wie ein Junge über einen schlüpfrigen Witz. Das Hochwasser wird auch zu seinem Schicksal. Wenn man so will, beerdigt ein Videoclip seinen Anspruch, Kanzler zu werden. Auf Twitter sind es zwei Worte hinter einem Hashtag: #LaschetLacht.
Soforthilfe floss prompt
All diese Debatten hat Familie Noll nur am Rande mitbekommen. Anfangs fehlte das Netz, fast immer aber die Zeit, sich abends noch hinzusetzen und sich zu informieren, was da in Düsseldorf und Berlin so beredet wurde. Wie alle anderen hier war Familie Noll mit Aufräumen beschäftigt. Möbel raus, Schlamm schippen, Wände schrubben. 1500 Euro Soforthilfe hatten sie beantragt. Das Geld floss prompt.
Hilfe, auch das gehört zur Geschichte dieser Flut, kam eigentlich von überall. Tausende Freiwillige, die sich in Bussen zum Aufräumen in die Katastrophengebiete fahren ließen. Eine Kirchengemeinde aus Bayern lud Kinder betroffener Familien zu einem Zeltlager ein. Zwei Wochen verbrachte Amely in Süddeutschland. „Es hat ihr gut getan“, sagt die Mutter.
Seit sechs Jahren sind Stefan und Dominique Noll ein Paar, seit fünf Jahren verheiratet, aber sie kennen sich fast ihr ganzes Leben. Die beiden sind zusammen zur Schule gegangen, verloren sich aus den Augen, sie lernte Einzelhandelskauffrau, er wurde Koch, beide zogen aus ihren Heimatdörfern nach Iversheim. Ohne es zu wissen, fuhr Dominique auf dem Weg zum Pferdestall fast täglich an seiner Wohnung vorbei. Schließlich half der Facebook-Algorithmus nach. Stefan wurde ihr als Freund vorgeschlagen. Sie schrieb ihn an. Vor drei Jahren kam Sohn Lio zur Welt, ein Jahr später folgte Sohn Milo. Mit Tochter Amely aus Dominiques voriger Beziehung sind sie nun zu fünft.
Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten und die Familie hat nur einen Wunsch: Sie möchte zurück in ihr kuschliges Mietshaus in Iversheim. Doch daraus wird nichts. Es mangelt an Handwerkern und Material, sagt Stefan Noll. „Wir sind froh, wenn vor Weihnachten noch der Estrich gelegt wird“, sagt er. Der Vermieter tue, was er kann.
Nach der Flut mussten die Nolls vier Wochen im nassen Haus ausharren. Ohne fließend Wasser, Strom und Heizung. Eine andere Bleibe konnten sie zunächst nicht finden, kein Wohnraum, nirgends. Die Zimmer in der ersten Etage haben sie vollgestopft mit dem, was die Erft übrigließ. Über Umwege erfuhren sie schließlich von Wohnungen, die eine Bank in Euskirchen Flutopfern zur Verfügung stellt. Seitdem wohnen sie in der großen Kreisstadt mit kaum Möbeln auf den Zimmern und einem Zweiplattenherd zum Kochen. Bezahlen müssen sie nur die Nebenkosten. „Besonders wohl fühle ich mich dort nicht“, sagt Dominique Noll. „Es ist einfach nicht unser Zuhause.“ Auch der Alltag ist anstrengender. Jeden Wochentag um 7:05 Uhr bringt die 30-Jährige die Kinder mit dem Linienbus von Euskirchen nach Arloff in Schule und Kita. 40 Minuten dauert die Fahrt.
Stefan Noll, 31, breite Schultern, wuscheliges Haar, arbeitet inzwischen als Garten- und Landschaftsbauer, den Job in der Gastronomie hat er aufgegeben, damit er abends mehr Zeit für die Familie hat. Er war unterwegs in jener Nacht, als das Wasser kam, getrennt von Frau und Kindern. Seit seinem zehnten Lebensjahr ist er bei der Freiwilligen Feuerwehr. Was er in dieser Zeit schon erlebt hat, will er nicht erzählen. Noll mag kein Pathos. Nur so viel: Wer andere Menschen retten will, muss bereit sein, sich mitunter selbst in Gefahr zu begeben. Das Private muss in eine Schublade gesteckt und diese dann im Kopf irgendwo ganz hinten zugemacht werden.
Am späten Nachmittag habe er einen Anruf der Feuerwehr erhalten. Ein paar Keller seien vollgelaufen. Mit seinen Kameradinnen und Kameraden sei er dann losgefahren zur Feuerwehrwache in Bad Münstereifel. Dort sollten sich alle versammeln und dann auf die Ortschaften verteilt werden. Auch wenn die Bäche rasch anschwollen, war das Ausmaß längst nicht klar.
Dann der Einsatzbefehl: Zurück nach Iversheim. In ihrem roten Tragkraftspritzenfahrzeug mit Wasser, kurz TSF W, fuhren Noll und sein Team, drei Männer und eine Frau, die Bundesstraße 51 entlang. Nach Iversheim kamen sie schon nicht mehr rein. Etwa 30 Meter nach dem Ortsschild mussten sie stehenbleiben. Draußen stand das Wasser bereits hüfthoch, erinnert sich Noll. Hilferufe gellten durch die Abenddämmerung. Die Feuerwehrleute wollten helfen, konnten aber nicht.
„Diese Naturgewalt, gegen die man einfach nicht ankommt“
Es war die Machtlosigkeit, die ihm besonders zugesetzt habe. „Diese Naturgewalt, gegen die man einfach nicht ankommt, der man einfach ausgeliefert ist“, sagt Noll. „Es ist ja eigentlich nur Wasser, aber Wasser kann eine so unglaubliche Kraft entwickeln.“
Dazu die Sorge um die eigene Familie. Nur wenige Hundert Meter entfernt saß Dominique mit den drei Kindern. Zwei Mal werden sie kurz telefonieren, ehe dann gegen 19 Uhr das Mobilfunknetz zusammenbricht. „Nimm die Kinder, den Hund und alles, was sonst wichtig ist, und geh nach oben“, sagt Stefan seiner Frau. Amely trägt zuerst ihre Nähmaschine in die erste Etage, ihr liebstes Stück, ein Geschenk der Eltern. Dominique holt noch den Nachbarn ins Haus, der nebenan allein in einem Einzimmer-Apartment wohnt. Im elterlichen Schafzimmer werden sie die Nacht verbringen. Ihre Tochter hält sie eng umschlungen. Amely weint. „Wir sterben“, sagt sie immer wieder. Die Mutter streicht ihr sanft über den Kopf. „Nein, wir werden nicht sterben.“
Sie habe stark sein wollen, aber selbst mit den Tränen gekämpft, sagt sie. Draußen war es inzwischen dunkel, der Strom längst ausgefallen. Sie beobachtet die Treppe, das Wasser holt sich Stufe um Stufe. Mit einem langen Stab angelt Dominique schon mal die Treppe zum Dachboden von der Flurdecke. Dorthin will sie mit Kindern und dem Nachbarn flüchten, sollte das Wasser weiter steigen. Über das geöffnete Fenster hält sie Kontakt mit dem Nachbarn aus dem Nebenhaus. Sie vereinbaren ein Notsignal. Wer zwei Mal mit der Taschenlampe kurz leuchtet, ist in Gefahr. Doch helfen hätten sie sich wohl trotzdem nicht gekonnt. Draußen schwammen Stahlcontainer vorbei, Autos, ein Hausdach. Ein reißender Strom fraß sich durch Iversheim.
Dominique hatte schon vor der Flut etwas Angst vor Wasser. Damals als Kind, sie muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, ist sie in einen Brunnen gefallen. Sie stürzte mehrere Meter tief und verlor das Bewusstsein. Ihr Vater hatte zum Glück den Schrei und das Platschen gehört. Dominique wurde gerettet.
In der Nacht der Flut sorgte sie sich auch um den Mann, der sich mit seinem Trupp draußen durch das Wasser kämpfte. Die Feuerwehrleute fuhren in die Dörfer rein und wieder raus. Richtige Hilfe sei nicht möglich gewesen, sagt Noll. Er schaut nachdenklich auf den Boden. Am Ende habe man sich nur noch selbst in Sicherheit bringen können. Die Nacht verbrachten sie die meiste Zeit in ihrem Feuerwehrauto auf der B51. Erst am nächsten Morgen, als das Wasser allmählich zurückging, hätten sie anfangen können, Menschen aus ihren Häusern zu befreien.
Völlig erschöpft
Der Einsatz beschäftigt Stefan Noll bis heute. Die Leute hätten geredet, die Feuerwehr hätte zu wenig getan. Aber was wissen die Leute schon? Er wäre überall reingegangen, um Leben zu retten, sagt er. Aber es ging einfach nicht. Fünf Feuerwehrmänner und eine Feuerwehrfrau kamen in NRW und Rheinland-Pfalz in den Fluten ums Leben.
Noll kam erst am Nachmittag des nächsten Tages nach Hause, völlig erschöpft. Er wollte kurz die Familie sehen, essen, auftanken und dann los zu den nächsten Einsätzen. Doch im Haus stürzte er die Treppe runter, verstauchte sich das Handgelenk und verletzte sich am Rücken. Zwei Wochen lang konnte er seine Feuerwehrtruppe nicht unterstützen. Noch heute hört es sich so an, als könnte er sich das kaum verzeihen.
Masterplan für Bad Münstereifel
Die Flut wird Bad Münstereifel verändern, auch positiv. Ein Masterplan soll die Stadt „digitaler, nachhaltiger und geschützter vor zukünftigem Hochwasser“ machen, schreibt Bürgermeisterin Sabine Preiser-Marian in ihrem Weihnachtsgrußwort und bedankt sich dafür, dass „jede und jeder von Ihnen bis an alle Grenzen ihr Bestes leistet in diesen schwierigen Zeiten.“
Auch der Stadtteil Iversheim arbeitet daran, sein Fluttrauma zu überwinden, für das Fest hat der Ort sich schick gemacht, so gut es geht. Der Weihnachtsbaum steht nicht wie gewöhnlich unten an der Fußgängerbrücke über die Erft, die den Ort in dieser Nacht so zugerichtet hatte. Sondern vor der Dorfhalle, nur ein paar Schritte von den Nolls entfernt. Hier wurden im Sommer, als die Not noch groß war, Lebensmittel und Drogerieartikel verteilt.
Das Fest, sagt Dominique Noll, wird in diesem Jahr ein anderes sein. In Iversheim wird es in vielen Häusern finster bleiben. Auch im Hause Noll. Sie werden Heiligabend in ihrer Bleibe in Euskirchen verbringen, mit etwas Deko, Geschenken unter einem Kunstbaum und einem bescheidenen Festmahl.
Was soll man auf einem Zweiplattenherd auch schon zaubern? „Äppelschlot mit Wöschje“, ruft Stefan rustikal in den Raum, Kartoffelsalat mit Würstchen. Für Dominique dürfte es schon auch ein Hackbraten sein. Man wird sehen.
Es sei ein heftiges Jahr gewesen, sagt sie. Als Eltern müsse man gerade in der Krise weiterfunktionieren. Die Kinder bei Laune halten, den Haushalt regeln, nebenbei Flutschäden beseitigen, in der Woche verdient der Mann das Geld, samstags sitzt sie zehn Stunden bei Edeka an der Kasse, um etwas dazuzuverdienen. Manchmal würde man fühlen, wie die Kräfte schwinden und Körper und Geist eine Auszeit fordern.
Was sie sich zu Weihnachten wünscht? Dominique Noll versinkt in Gedanken und sagt dann: Einmal raus, alles hinter sich lassen, den Stress und die Gedanken an die Flut. Sachen packen und weg. Einmal Paris, sagt sie. Da wollte sie schon immer mal hin. Das wäre was.