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Am Rande der ErschöpfungZehn Pflegekräfte erzählen von ihren Erfahrungen

Lesezeit 12 Minuten

Kevin Mensah, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln.

Köln – Man könnte diesen Text mit dem Klatschen beginnen, denn mit dem Klatschen begann es ja. Am Anfang der Pandemie traten die Menschen auf ihre Balkone und applaudierten für die, die man fortan „systemrelevant“ nannte, die dieses Land also am laufen halten, wenn es stillstehen muss. Doch – und vielleicht liegt darin schon die Tragik des Kampfes der Pflegebranche für mehr Lohn, Anerkennung, bessere Arbeitsbedingungen – die Erzählung vom kollektiven Applaus wirkt nach einem Jahr Pandemie irgendwie auserzählt.

Also beginnen wir mit einer Zahl: 13. So viele Patienten kommen in Deutschland laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung im Schnitt auf eine Pflegefachkraft. In den USA sind es 5,3.

Noch eine? 14,24 Euro. So viel verdiente 2018 eine examinierte Fachkraft in der Altenpflege durchschnittlich in der Stunde. Brutto. In der Krankenpflege waren es 16,23 Euro. Der Mittelwert für alle Beschäftigten in Deutschland: 16,97 Euro.

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Seitdem ist ein bisschen was passiert. Im Oktober vergangenen Jahres einigten sich die Tarifpartner darauf, den Lohn von Pflegekräften bis Ende 2022 um 8,7 Prozent erhöhen zu wollen, den der Intensivkräfte sogar um bis zu zehn Prozent.

Knapp die Hälfte mit Tariflohn

Allerdings kommt von den 1,2 Millionen Beschäftigten in der Altenpflege nur knapp die Hälfte überhaupt auf Tariflohn. Und auch ein Gros der Krankenhäuser ist nicht an den Tarif gebunden. Dem will nun Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) entgegenwirken: Mit einem Gesetzesvorschlag, der vorsieht, dass ab Juli 2022 Pflegeeinrichtungen nur noch zugelassen werden, wenn sie ihre Pflegekräfte nach einem Tarif oder tarifähnlich bezahlen.

Fragt sich, ob das alles noch rechtzeitig kommt.

Denn dass die deutsche Bevölkerung immer älter wird, dass die Pflegekräfte weniger werden, dass das zu einem Problem führt (weniger Menschen müssen sich um mehr Menschen kümmern), das alles ist schon lang bekannt. So fehlen laut einer Studie der Bertelsmanns Stiftung bis zum Jahr 2030 fast eine halbe Million Pfleger in Vollzeit.

Schon heute arbeiten die Beschäftigten in der Branche am Limit. Viele berichten von Angst, durch Zeitnot ihre Patienten nicht mehr ausreichend oder würdevoll genug versorgen zu können. Von körperlich und psychisch hoher Belastung. Und von der Angst, dass auf die warmen Worte nicht viel folgt, wenn nun die Infektionszahlen sinken. Dass sie für ein paar Monate „Corona-Heldinnen“ waren und bald aber wieder vergessen sind . Wir haben zehn Pflegerinnen und Pfleger gefragt, wie sie sich fühlen, jetzt, wo schon lange nicht mehr geklatscht wird.

„Nur schöne Worte“

Kevin Mensah, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln

Kevin Mensah, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln.

Viele Bewohner fragen mich: „Wann hört das Ganze mit Corona endlich auf?“ Es tut mir dann leid, dass ich ihnen keine richtige Antwort geben kann. Natürlich wünschen auch wir uns, dass es möglichst bald so wird wie vor der Pandemie. Obwohl: Was unsere Situation als Pfleger angeht, wünsche ich mir eigentlich, dass es anders wird. Über Pflegenotstand wurde schon gesprochen, bevor ich überhaupt in den Beruf eingestiegen bin. Politiker finden schöne Worte, die nach viel klingen, aber hier in den Häusern, wo die Menschen schwer arbeiten, da hat sich auch trotz der großen Aufmerksamkeit in der Pandemie nichts verändert. So plötzlich wie Deutschland für uns geklatscht hat, so plötzlich ist alles auch wieder verstummt. Ich hoffe, dass die Menschen und Politiker auch noch an uns denken, wenn Corona vorbei ist.

„Jeden Tag ein Marathonlauf“

Kristin Gräfe, Intensivpflegerin am Universitätsklinikum Köln

Seit 20 Jahren arbeite ich in der Intensivpflege, seit 20 Jahren kümmere ich mich um schwerkranke Menschen – und noch nie habe ich so viele Patienten in so kurzer Zeit sterben sehen wie in den vergangenen Monaten. Das war sehr belastend. Ist es noch immer. Oft habe ich drei Patienten gleichzeitig versorgen müssen, so ausgelastet waren die Covid-Stationen. Ich stand also in einem Doppelzimmer und habe gleichzeitig noch das Einzelzimmer nebenan betreut. Das war wie ein Marathonlauf, jeden Tag aufs Neue. Das Ziel war, dass möglichst viele Patienten noch leben, wenn meine Schicht vorbei ist. Ich weiß, dass ich in dieser Zeit nicht so für die Patienten da sein konnte, wie ich es gern gewesen wäre. Weil die Zeit oft gefehlt hat. Das tat mir wahnsinnig leid. Mit diesem Gefühl geht man dann auch nach Hause.

Hinter uns allen liegen Monate enormer Anstrengung. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen außerhalb der Krankenhäuser das wahrgenommen haben. Gleichzeitig hat sich natürlich im Alltag noch nichts verändert. Die versprochene Bonuszahlung soll ich in den kommenden Monaten bekommen. Und sonst? Brauchen wir mehr Personal und ein besseres Image. Ich hoffe, dass es nicht nur bei den symbolischen Gesten bleibt. Dass die Gesellschaft begriffen hat, dass Pflege mehr ist, als – plakativ gesagt – jemandem den Hintern abzuwischen. Ich liebe den Beruf, er macht mir unfassbar Spaß. Wenn die Belastung so hoch bleibt, weiß ich aber nicht, ob ich bis zur Rente durchhalte. Auch wenn ich es mir wünschen würde.

Moralischer Druck

Karsten Löffert, Intensivpfleger

Fast 50.000. So viele Pflegestellen wurden in den allgemeinen Krankenhäusern zwischen 1996 und 2007 in Deutschland abgebaut. Und das bei einer Bevölkerung, die immer älter wird. Kaum verwunderlich, dass jetzt Personal fehlt, oder?

Patienten brauchen akut Hilfe. Das unterscheidet die Pflege etwa von einer Stadtverwaltung. Wenn da eine Kollegin ausfällt, bleibt die Arbeit halt liegen, bis sie wieder da ist. Das funktioniert aber auf einer Intensivstation nicht. Kein Pfleger geht einfach nach Hause, wenn er damit die Gesundheit eines Patienten gefährdet. Es ist auch der moralische Druck, durch den das System augenscheinlich noch „funktioniert“. Ändert auch die Pandemie nichts dran. Danach heißt es dann: „Hat doch alles geklappt“.

Überstunden zuhauf

Lea F., Altenpflegeassistentin in einem Seniorenheim

Ja, durch die Impfung ist vordergründig vielleicht manches einfacher geworden. Doch der ganze Stress, der sich in den Pandemiemonaten angestaut hat, der geht nicht einfach weg. Es gibt keine Möglichkeit durchzuatmen. Jeden Monat mache ich 20 bis 30 Überstunden, also offiziell. Und dann bestimmt noch einmal die gleiche Anzahl, die gar nicht erst erfasst wird. Die Patientenversorgung fühlt sich manchmal an wie „Warenmanagement“. Wir sind in unserer Einrichtung so knapp besetzt, dass wir Dinge, die täglich passieren sollten, nicht mehr täglich erledigen. Betten neu beziehen. Oder die Bewohner waschen. Es gibt kaum Tage, an denen ich nicht nach Hause gehe und darüber nachdenke, was ich alles nicht geschafft habe. Für alle Kollegen fühlt es sich so an, als sei der Punkt längst erreicht, ab dem es so einfach nicht mehr weitergehen kann.

Vor 20 Jahren war der Beruf noch ein anderer

Sandra Bretz, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln

Sandra Bretz, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln

Trotz der Lockerungen für die allgemeine Bevölkerung hat sich die Situation in den Pflegeheimen leider noch nicht wirklich verändert: Noch immer dürfen die Bewohner nur für kurze Zeit maximal zwei Besucher empfangen. Noch immer arbeiten wir natürlich mit Schutzmaske. Das muss sein, klar. Aber es ist sehr belastend, man schwitzt, man kriegt schlecht Luft und die alten Menschen verstehen oder erkennen mich teilweise gar nicht. Gerade die Demenzkranken begreifen oft nicht, dass die Maske eine Schutzmaßnahme ist. Stattdessen bekommen sie Angst, davor, dass sie selbst eine schlimme Krankheit haben.

Auch wenn ich bereits geimpft bin: Privat bin ich noch immer sehr vorsichtig, kaufe eigentlich nur online ein, treffe kaum andere Leute. Es ist noch lange nicht so, wie es einmal war.

Über die Bonuszahlung oder Prämie, wie auch immer man sie nennen will, habe ich mich sehr gefreut. Genauso über den Applaus von den Balkonen. Beides aber war doch eher kurzfristig. Dabei brauchen wir doch langfristige Veränderungen. Wir brauchen bessere Bezahlung. Und mehr Personal.Als ich als Altenpflegerin begonnen habe, vor über 20 Jahren, da war der Beruf noch ein anderer: Wir Pflegerinnen hatten Zeit, mit den Bewohnern zu spielen, spazieren zu gehen, sie ein Stück weit auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Für einige dieser Dinge gibt es mittlerweile den Sozialen Dienst im Pflegeheim und das ist auch gut so. Denn ich als Pflegerin hätte da kaum noch Luft für. Heute bin ich mehr zwischen den Zimmern unterwegs. Wenn jemand traurig ist oder Gesprächsbedarf hat, habe ich spontan nicht mehr als fünf Minuten. Die nehme ich mir dann aber auch. Und setze mich dazu. Man merkt richtig, wie gut das den Bewohnern tut. Selbst wenn es nur fünf Minuten sind. Wie froh sie ein einfaches Lächeln machen kann.

System ist kaputt

Petra U., Pflegehilfskraft in der Altenpflege

Als ich vor 40 Jahren angefangen habe, waren wir ziemlich genau doppelt so viele Pflegerinnen und Pfleger. Ich mache meinen Beruf total gern, die Bewohner geben mir so viel. Aber das Arbeitspensum ist schon enorm gestiegen. Und die Pandemie trägt auch jetzt noch dazu bei: Jeden Tag messen wir bei allen Bewohnern Fieber, alle drei Tage werden alle Stationen durchgetestet. Wir müssen dann die Ergebnisse dokumentieren. Klar, dass da Zeit in der Pflege verloren geht.

Ich weiß wirklich nicht, wie man die Pflege noch retten soll. So viele Jahre wurde nur gespart, gespart, gespart. Jetzt ist das System kaputt. Ich steh’ kurz vor der Rente, ich werde das auch noch durchziehen. Aber jungen Kollegen würde ich am liebsten raten: Wenn ihr schlau seid, macht was anderes.

Pflege ist heute ein Business

Jens Dieckmann, Ambulanter Pfleger

Jens Dieckmann, Ambulanter Pfleger

Im Dezember, als die dritte Welle so richtig losging, war ich müde. Da konnt’ und wollt’ ich kurz nicht mehr. Aber ich glaube, diese Momente hat jeder in seinem Job. Der Unterschied ist natürlich, dass ich als Pfleger mir nicht einfach so frei nehmen kann, nur weil ich mich mal ein bisschen überlastet fühle.

Ich glaube, für viele Außenstehende scheint die Pflege wie eine heile Welt. Aber die Pflege, egal ob im Heim, ambulant oder im Krankenhaus, ist ein Business geworden. Und dadurch kaputt gegangen. Da ist Corona nur das I-Tüpfelchen. Die Politik müsste es schaffen, das System zu ändern, den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Für das Geld gäbe es einfachere Jobs

Sabrina Vogel, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln

Sabrina Vogel, Pflegekraft im Altenzentrum St. Maternus der Caritas Köln

Wenn ich mit anderen Menschen über meinen Beruf spreche, dann höre ich oft: „Also ich könnt’ das nicht, aber ist gut, dass du das machst...“ Wie eine wirkliche Wertschätzung fühlt sich so ein Satz aber nicht an. Eher gleichgültig.

Dabei ist doch die Wahrheit: Wenn es uns Pflegekräfte nicht gäbe, wer würde sich denn dann um die alten Menschen kümmern? Wir sind nicht nur das Personal, das die Bewohner wäscht und ihnen die Medikamente gibt – wir sind teilweise ihre Ersatzfamilie. Gerade zu Anfang der Corona-Pandemie, als es noch das Besuchsverbot gab. Viele Bewohner konnten nicht verstehen, warum sie ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften, haben geweint, sind depressiv geworden. Wir waren für sie da und haben sie getröstet. Haben versucht, über Skype trotzdem Gespräche mit ihren Verwandten möglich zu machen, auch wenn letztendlich ein Bildschirm keinen Menschen ersetzen kann.

Für das Geld, das man als Pfleger bekommt, gäbe es definitiv „einfachere“ Jobs. Jobs, in denen man sich nicht den Rücken kaputtmacht. In denen man nicht nachts, am Wochenende und feiertags arbeitet. Das alles machen wir auch nicht für die Dankbarkeit der Außenwelt. Die Dankbarkeit der Bewohner bedeutet viel mehr, sie ist der größte Antrieb. Gleichzeitig hat man schnell ein schlechtes Gewissen, wenn man sich in einer stressigen Schicht nicht genug Zeit für jemanden nehmen konnte.

Und so paradox das klingt: Wenn man dieses schlechte Gewissen nicht hat, kann man auch nicht mit ganzem Herzen Pfleger sein. Die Menschen, jeder so individuell und besonders, haben mich immer in dem Beruf gehalten. Ich habe dennoch mittlerweile beschlossen, dass ich einen anderen Weg gehen will. Ich will Pflegedienstleitung werden. Ich bin Mutter und die Arbeitszeiten als Pflegerin auf der Station sind kaum mit den privaten Verpflichtungen zu vereinbaren. Ein Problem, das nicht nur ich habe. Die Lösung wäre: Mehr Menschen für unseren Beruf zu begeistern – und so mehr Personal zu bekommen.

Von Dankbarkeit allein kann ich nichts kaufen

Viola L., Intensivpflegerin

Angela Merkel hat gesagt, sie sei uns dankbar. Das ist schön. Alle sind gerade dankbar. Davon können wir uns nichts kaufen. Wir brauchen bessere Bezahlung. Finden alle richtig, die Forderung. Bis dafür die Krankenkassenbeiträge erhöht werden. Dann gäb’s Protest aus der breiten Bevölkerung. Mittlerweile bin ich ratlos, wie man dieses System noch retten soll.

Und ja, das Jammern nervt. Mich auch. Ich will nicht immer jammern müssen, wenn ich über meinen Beruf spreche. Pflege ist total interessant. Sehr eigenverantwortlich, sehr vielseitig. Und ich liebe es, mit den Patienten zu sprechen. Andererseits bin ich nach jeder Schicht platt und habe trotzdem das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Es gibt keine Supervision, keine Betreuung, mit der man versucht, diesen psychischen Druck zu mildern. Ich kann jeden verstehen, der geht. Auch ich weiß, dass ich das nicht bis zur Rente schaffe. Deswegen denke ich darüber nach, doch noch zu studieren.

Nach dem Hochgefühl kam die Wut

Dorina Hilger, Pflegedienstleitung in der Uniklinik

Es gab in dieser Pandemie schon Tage, da saß ich vor dem Schichtplan und dachte: Wie soll das nur funktionieren? Ich war oft kurz davor, mir selbst wieder die Kleidung anzuziehen und auf der Station mitzuarbeiten. Hätte ich auch gemacht, musste ich aber nie. Denn am Ende hat sich immer jemand aus dem Team gefunden, der eingesprungen ist, der gesagt hat: „Wenn alle Stricke reißen, bleibe ich eben länger.“

Wir Pfleger sind so. Wir geben alles für die Patienten, auch wenn es bedeutet, dass wir selbst zurückstecken müssen. Als Pflegedienstleitung ist es auch meine Aufgabe, darauf zu achten, dass sich trotzdem niemand überarbeitet, dass jeder seinen Urlaub nehmen kann. Dass jemand, in dessen Schicht drei Menschen gestorben sind, auch mal eine Pause bekommt. Das ist mir wichtig, dafür kämpfe ich.

Gleichzeitig war der Unmut auch in unserer Belegschaft groß, als klar wurde: Nach den warmen Worten in der ersten Covid-Welle kommt nicht mehr viel. Das Hochgefühl ist abgeebbt. Dagegen steht bei vielen nun die Wut, dass sich mal wieder gar nichts tut. Es ist einfach schade, dass Menschen, die so viel für die Gesellschaft leisten, so oft übersehen werden. Jetzt, wo das „normale“ Leben wieder in greifbare Nähe rückt, merke ich, dass sich viele umorientieren, dass gerade junge Kollegen doch noch einmal studieren wollen – und zwar Fächer, die überhaupt nichts mit Pflege zu tun haben. Bei denen klar ist: Die kommen nicht mehr zurück.