Europa erlebt Hochrechnungen zufolge erneut einen Rechtsruck. Die EVP mit ihrer Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen ist zwar stärkste Kraft – doch ob die Kommissionspräsidentin wiedergewählt wird, könnte auch von Giorgia Meloni abhängen.
Europawahl 2024Europas Schritt nach rechts: Eine Analyse
Einfach Giorgia auf den Wahlzettel schreiben“, empfahl die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni ihren Anhängerinnen und Anhängern. Die 47-Jährige liebt es, im Rampenlicht zu stehen. Auch am Wahlabend waren alle Augen auf Meloni gerichtet. Wie schon bei ihrer Wahl an die Regierungsspitze vor zwei Jahren griff Meloni zum „Früchtetrick“: Damals posierte sie am Tag der Stimmabgabe mit zwei Melonen auf Instagram, diesmal vor einem Berg Kirschen der Sorte Giorgia.
Ob mit oder ohne süße Versuchung – Meloni ist nach der Wahl gefragt wie nie. Die „Wölfin im Schafspelz“, wie die Rechtspopulistin mit den guten Manieren zu Beginn ihrer Amtszeit oft genannt wurde, soll EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer zweiten Amtszeit verhelfen. Meloni ist die neue Königsmacherin der Europäischen Union. Denn angesichts der Wahlergebnisse von Liberalen, Sozialdemokraten und Konservativen muss von der Leyen um jede Stimme kämpfen, um wiedergewählt zu werden.
Wird die Italienerin ihr die Hand zur Macht reichen? Rund 360 Millionen Wahlberechtigte waren in den vergangenen Tagen aufgerufen, die Abgeordneten für das nächste Europäische Parlament zu wählen. 26 Millionen von ihnen durften zum ersten Mal wählen, darunter zwei Millionen 16- und 17-Jährige. Die letzten fünf Jahre hatten Europa vor ungeahnte Herausforderungen gestellt: Mit Großbritannien verließ erstmals ein Land die EU, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine erschütterte den Glauben an ein friedliches Europa, und die Corona-Pandemie stellte die Solidarität innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft auf eine harte Probe.
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Von der Leyen: Krisenmanagerin der EU
Von der Leyen wurde zur Krisenmanagerin, machte die EU zu einem ernstzunehmenden geopolitischen Akteur – und will auch weiter an der Spitze der EU bleiben. Die Herausforderungen für das EU-Parlament und die -Kommission werden auch in den kommenden fünf Jahren nicht geringer: Das ständige Säbelrasseln Russlands, eine mögliche Rückkehr Trumps ins Weiße Haus und der Rivale China stellen die EU auch in Zukunft vor immense Bewährungsproben.
Doch gemeinsame Antworten auf die zahlreichen Krisen in Europa und dessen Nachbarschaft zu finden wird für das neu gewählte EU-Parlament nun schwieriger denn je. Bereits am Donnerstag konnten die Menschen in den Niederlanden ihre Stimme abgeben. Dort gewann der Rechtspopulist Geert Wilders sieben Sitze für seine Partei – sechs mehr als bei der letzten Wahl. Immerhin: Stärkste Kraft mit acht Sitzen wurde hier die Gruppe aus Grünen und Sozialdemokraten. Das Land galt als Testfall für die Stimmung in der EU und hat seinen Schatten auf die Wahl am Sonntag vorausgeworfen.
Euroskeptische Parteien bleiben auf dem Vormarsch
Der Ausgang dieser Europawahl erinnert an die Wahl 2019: Erneut werden nun mehr rechtsextreme Abgeordnete ins Parlament kommen, die sich in ihr Wahlprogramm geschrieben haben, eben dieses Parlament schwächen oder ganz abschaffen zu wollen. Erneut war die Europawahl den unzähligen Einflussversuchen aus Russland ausgesetzt. Und erneut suchten die proeuropäischen Parteien nach Lösungen, wie sie die Demokratie gegen die Angriffe von innen und außen schützen können.
Europaweit bleiben euroskeptische Parteien auf dem Vormarsch. In Osteuropa, insbesondere in Polen und Ungarn, dominieren Parteien wie die polnische Partei PiS und die ungarische Fidesz-Partei von Viktor Orban die EU-kritische Rhetorik. Auch in Italien haben Lega und Fratelli ihre Positionen weiter verstärkt. Der italienische Lega-Chef Matteo Salvini erklärte, die Vorgaben der EU beeinträchtigten Italiens Wohlstand. In Spanien und Griechenland geben rechte Parteien wie die spanische Vox ebenfalls der EU die Schuld an der schwierigen wirtschaftlichen Lage.
Die Europäische Volkspartei (EVP) mit ihrer Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen ist zwar stärkste Kraft, doch die 65-Jährige steht erst am Anfang der eigentlichen Herausforderung. Ihre Wiederwahl zur EU-Kommissionschefin hängt von der Zustimmung der Staats- und Regierungschefs und den neuen Abgeordneten in einigen Wochen im Parlament ab. Bisher konnte sich die „mächtigste Frau der Welt“ („Forbes“-Magazin) im Parlament auf die Unterstützung ihrer informellen Koalition aus EVP, Sozialdemokraten (S&D) und den Liberalen (Renew) verlassen, manchmal auch auf die Grünen.
Doch schon früh am Wahlabend zeichneten sich deutliche Zugewinne für Europas Rechte ab: In Österreich ist die rechte FPÖ stärkste Kraft, die mit dem Slogan „EU-Wahnsinn stoppen“ angetreten war. Die Mehrheit der „Von-der-Leyen-Koalition“ schrumpft und steht bei künftigen Abstimmungen mehr denn je unter Druck. Wechselnde Mehrheiten und das Ringen um einzelne Abgeordnete werden in Zukunft noch häufiger den politischen Alltag im EU-Parlament prägen.
Strippenzieherin Meloni
Von der Leyen, die im Wahlkampf immer wieder dafür kritisiert wurde, sich eine Zusammenarbeit mit der Postfaschistin Meloni und deren Fratelli-Abgeordneten offenzuhalten, könnte nun bei ihrer Wiederwahl zur EU-Kommissionschefin genau auf diese Stimmen aus Italien angewiesen sein. Meloni gilt daher als eine der wichtigsten Strippenzieherinnen im Kampf um das wohl mächtigste Amt der EU und wird von allen Seiten umgarnt. „Wir als Grüne stellen uns mit allem, was wir haben, gegen diesen Rechtsruck“, hatte Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke noch gewarnt. Nun ist es an Meloni: Unterstützt sie von der Leyen, oder geht sie auf die Avancen von Marine Le Pen ein, mit ihr zusammen einen populistischen Superblock zu bilden? Zu welchem Entschluss Meloni auch kommt, mit ihrer Entscheidung wird sie den Kurs Europas für den Rest des Jahrzehnts mitbestimmen.
Meloni, die als italienische Ministerpräsidentin in Brüssel mit am Tisch sitzt, hat ihre Partei als führende Kraft im rechten politischen Spektrum etabliert. Mit radikalen Parolen hält sie sich in Brüssel zurück, sie ist geradezu salonfähig geworden. Mit anderen Rechten einen sie ihre euroskeptische Haltung und ihr Kampf gegen Migration nach Europa. Wie auch Le Pen hat sie ihre rechte Bewegung geschickt zu einer vorzeigbaren Partei gemacht, die man wählen kann, ohne sich dafür schämen zu müssen. In Brüssel unterstützt sie pragmatisch die Sanktionen gegen Russland und die Hilfe für die Ukraine, setzt auf Zusammenarbeit – und die dringend benötigten Milliardenhilfen für die italienische Wirtschaft der EU. Nun baut sie ihre Macht auch unter den Abgeordneten im Parlament aus. Schließen sich noch weitere Parteien Melonis EKR-Fraktion an, kann sie wichtige Posten in Ausschüssen und vielleicht sogar einen Vizepräsidenten des Parlaments stellen.
Doch reichen die Zugewinne aus, um dem Schwenk nach rechts auch spürbare Konsequenzen folgen zu lassen? Daran muss schon deswegen gezweifelt werden, weil die Rechten in zahlreichen Fragen tief zerstritten sind. Zwar stellen die ultraradikale ID-Fraktion und die nationalkonservative EKR-Fraktion wohl mehr als ein Fünftel der insgesamt 720 Abgeordneten, aber eine schlagkräftige Allianz der beiden Gruppen gibt es nicht.
Es wird noch Tage dauern, bis das vollständige Ausmaß des Rechtsrucks und die Folgen für die Zusammensetzung der politischen Lager sichtbar werden. Viele Parteien kommen jetzt zum ersten Mal ins Parlament, die Fraktionen buhlen um neue Abgeordnete, und am rechten Rand könnten sich so manche Parteien zu einer neuen Fraktion zusammenschließen. Informelle Gespräche laufen bereits seit vielen Wochen. Das Parlament ist zwar gewählt, die politischen Kräfte müssen sich jetzt aber erst noch formieren.
Für viele EU-Länder gilt die Europawahl als Stimmungsbarometer für die Arbeit der Regierung oder bevorstehende nationale Wahlen. Im Fokus stehen etwa die Präsidentenwahlen in Frankreich, wo sich die politischen Kräfteverhältnisse ändern könnten. Le Pen will 2027 den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron ablösen und liegt in den Umfragen schon lange vorn.
In einer Woche treffen sich Meloni und die anderen Staats- und Regierungschefs zu einem Abendessen hinter verschlossenen Türen in Brüssel, um über die Nominierung von Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin und die Besetzung weiterer Spitzenposten zu beraten. Das ist der Moment, wo die Ergebnisse der Wahlen Früchte tragen sollen.