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Bedingt aufnahmebereitBei der Verteilung von Geflüchteten stoßen Behörden an Grenzen

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Geflüchtete am Breslauer Platz

Geflüchtete kommen am Breslauer Platz in Köln an. 

Köln/Düsseldorf – „Wenn die Geflüchteten aus der Ukraine nicht in den nächsten Tagen zentral verteilt werden, am besten schon an der Grenze, werden Städte wie Köln, München und Berlin spätestens in zwei Wochen massiv überfordert sein“, sagt Eugen Seleny. „Die Ukrainer kennen in Deutschland vor allem die großen Städte – wenn ihnen niemand sagt, wohin sie fahren sollen, fahren sie nach Köln, Berlin und München.“

Seleny, der für die ukrainischen Städte Odessa, Cherson und Nikolaev die humanitäre Flüchtlingshilfe mitkoordiniert, war vor einigen Tagen an der ukrainisch-polnischen Grenze: „Die Schlangen dort sind 20 Meter breit und kilometerlang.“ Die Schätzung der Vereinten Nationen, dass vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen könnten, hält er für defensiv: „Je nachdem, wie der Krieg in den kommenden Tagen eskaliert, werden fünf bis zehn Millionen Menschen fliehen.“ Deutschland sei für viele Ukrainer „das attraktivste Land, um hier zu bleiben“. In Köln ist der 47-Jährige, um seine drei Kinder zu ihren hier lebenden Großeltern zu bringen.

„Abläufe wie in Berlin müssen vermieden werden“

Eugen Seleny ist im Auftrag der Ukraine in den vergangenen Tagen durch Deutschland gereist, um sich ein Bild von der Lage der flüchtenden Landsleute zu machen. „Viele Züge sind derzeit so überfüllt, dass auch deutsche Reisende schon verärgert sind. Die Verteilung der Menschen muss in den kommenden Tagen professionell koordiniert werden.“ Besonders erschrocken hätten ihn die Zustände in Berlin, wo täglich mindestens 10000 Menschen ankommen: Dort standen in den vergangenen Tagen Privatleute mit Schildern am Bahnhof, auf denen stand, wie viele Menschen sie aufnehmen können.

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Die Zentrale Ausländerbehörde in Köln-Kalk hatte schon am Donnerstag vor den vielen Menschen aus der Ukraine, die sich registrieren lassen wollten, kapituliert: Ab 12.30 Uhr erhielten die Wartenden keine Termine mehr und wurden weggeschickt, eine Augenzeugin eines Hilfsvereins sprach von „unhaltbaren Zuständen“.

Engpass in Leverkusen, Container in Bergisch Gladbach

Auch in den Städten und Kreisen in der Region kommen täglich mehr Geflüchtete aus der Ukraine an. Die Stadt Leverkusen stößt bei der Aufnahme schon an ihre Kapazitätsgrenzen. Am Freitag waren hier 367 Geflüchtete registriert. Im Rheinisch-Bergischen Kreis sind bisher alle Flüchtlinge privat untergekommen. Die Stadt Bergisch Gladbach will aber ein Containerdorf reaktivieren, das von syrischen Geflüchteten bewohnt wurde und seit Jahren leer steht. Auch in allen Kommunen im Kreis Euskirchen sind bereits Geflüchtete aus der Ukraine angekommen, alle über private Kontakte. (red)

„Abläufe wie in Berlin müssen dringend vermieden werden, auch, um die ankommenden Menschen nicht zu gefährden“, sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat. „Die Unterbringungen müssen strukturiert und professionalisiert werden.“ Die Entscheidung, wo die Menschen künftig leben, „muss besser heute als morgen fallen, auf jeden Fall aber nächste Woche“.

Geflüchtete sollten nicht mehrmals den Ort wechseln

Um die Millionenstädte zu entlasten, sollen Geflüchtete, die nicht privat unterkommen können, „verstärkt nach dem Königsteiner Schlüssel“ verteilt werden, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Freitag. Dieser Schlüssel richtet sich nach dem Steueraufkommen und der Bevölkerungszahl der Länder. Demnach sollen Busse und Züge Geflüchtete in andere Bundesländer bringen. Inzwischen seien mehr als 110000 Kriegsflüchtlinge nach Deutschland gekommen, sagte die Ministerin.

Zuvor hatte das Ministerium auf Anfrage mitgeteilt, „dass die Bundesländer vorab ein grobes Kontingent an Unterbringungsmöglichkeiten für einen bestimmten Zeitraum melden“. Die Feinplanung und konkrete Verteilung werde dann „täglich abgestimmt“. In Nordrhein-Westfalen werden vorläufig sechs Landesunterkünfte für 4800 Menschen bereitgestellt, in Köln die Messehallen vorbereitet.

Noch verlieren sich die Behörden in Floskeln, wenn es um die größte humanitäre Herausforderung seit der Flüchtlingskrise 2015 geht. „Für Verteilung, Unterbringung und Transport erfolgt ein täglicher enger Austausch zwischen Bund und Ländern“, sagt der Ministeriumssprecher. „Wichtig ist, dass die Geflüchteten nicht mehrmals den Ort wechseln müssen“, sagt Prölß. „Zu uns kommen Frauen, Kinder und alte Männer, viele von ihnen sind psychisch stark belastet, manche traumatisiert.“

Seleny fährt zurück nach Odessa

Das NRW-Flüchtlingsministerium hat einen Krisenstab eingerichtet. „Im Vordergrund stehen in der jetzigen Situation eine geordnete Unterbringung der schutzsuchenden Menschen, ihre Registrierung und landesweite Verteilung“, sagt Minister Joachim Stamp am Freitag bei einem Pressegespräch.

Derzeit arbeite das Ministerium „in sehr sensibler Vorbereitung“ an Betreuungsangeboten für geflüchtete Kinder. Nach ersten Erfahrungen, sagt Stamp, wollen aber viele junge Familien den Tag vorerst zusammen verbringen. „Neben Kita und Kindertagespflege rücken jetzt wieder Angebote für die Kinderbetreuung in besonderen Fällen – sogenannte Brückenprojekte – in den Vordergrund“, sagt Stamp. „Diese Angebote sind eine gute Möglichkeit für die Kinder und ihre Angehörigen, nach den traumatisierenden Erfahrungen von Putins Terror hier anzukommen und Ruhe zu finden.“

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Koordiniert werden muss auch die Eingliederung der Kinder in Schulen. „Es müssen Klassen gebildet werden, gern auch mit Kindern unterschiedlicher Altersgruppen, die auch von ukrainischen Lehrerinnen unterrichtet werden“, sagt Eugen Seleny. „Von denen gibt es mehr als genug.“ Wichtig sei jetzt, nicht die Klassengrößen zu zählen. „Ob 26 oder 28 Kinder in einer Klasse sind, sollte keine Rolle spielen.“

Seine eigenen drei Kinder werden ab Montag in Köln in die Schule gehen. Er selbst wird nicht da sein, wenn sie von ihrem ersten Schultag in der neuen Stadt erzählen. Seleny fährt am Wochenende zurück nach Odessa. Seine Frau ist dort geblieben – sie koordiniert die Versorgung der Armee in der Stadt.