Werner Beutler, 92, geboren in Köln. Nach dem Krieg studierte er an der Uni Köln Deutsch, Geschichte und Philosophie. Sechs Jahre arbeitete er an der deutschen Schule in Madrid, später am Schillergymnasium Köln.
Vor der ersten Bundestagswahl 1949 herrschte Aufbruchstimmung. „Auch wenn die Besatzung offiziell erst 1955 beendet war, hat die Gründung der Bundesrepublik den Menschen klar gemacht: Wir sind nicht mehr nur besiegt und besetzt, wir können wieder unsere eigene Politik machen“, erinnert sich Werner Beutler. Jetzt ging es darum, die Weichen für die junge Demokratie zu stellen. Und er, der 24-jährige Student, durfte dabei mittun, zum ersten Mal seine Stimme bei einer Wahl abgeben.
Werner Beutler erinnert sich, dass am Wahltag am 14. August viele Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Mit seiner Familie machte er sich auf zum Wirtshaus von Altenbödingen, in dem das Wahllokal des Dorfes untergebracht war. In den kleinen Ort nahe Hennef hatte es die Familie Beutler im Krieg verschlagen, als sie vor dem Bombenhagel in Köln fliehen musste.
In einer Wahlkabine aus Holzverschlägen habe er seinen Stimmzettel ausgefüllt. Aufgeregt war er nicht dabei. „Ich hatte damals andere Sorgen“, gesteht der heute 92-jährige Kölner mit einem Lachen. „Ich stand kurz vor meinem Lehramtsexamen an der Universität Köln, und außerdem war ich ja frisch verliebt.“ In seine heutige Frau Ursula, die er 1952 heiratete und mit der er in diesem Jahr Eiserne Hochzeit feiern durfte.
Immer politisch interessiert
Trotzdem sei er aber politisch immer interessiert gewesen. Mit einigen Kommilitonen habe er an der Universität Köln einen Debattierverein gegründet, in dem die Studenten reihum Referate zu aktuellen politischen Themen hielten. Tatsächlich habe einer seiner Kommilitonen damals schon über die Idee eines vereinten Europas gesprochen. „Das schien uns damals noch ein ziemlich weiter Weg zu sein“, erinnert sich Beutler.
Unter seinen Kommilitonen sei auch der späteren CDU-Kanzlerkandidat und Bundestagspräsident Rainer Barzel gewesen „Der hat mich anfangs noch versucht, davon zu überzeugen, dass ich mich in der Zentrumspartei engagieren soll“. Beutler aber hielt es eher mit der neugegründeten CDU/CSU. „Ich war begeistert, dass es jetzt eine Partei für katholische und evangelische Christen gab“, erzählt Beutler. In Altenbödingen habe er auch offen dafür geworben. Wenig erfolgreich. Das streng katholische Dorf wählte weiter mehrheitlich das Zentrum.
Mit dem Wahlausgang zufrieden
Trotzdem war Beutler mit dem Wahlausgang zufrieden. Schließlich ging die Union auf Bundesebene als stärkste Partei aus einer sehr knappen Wahl hervor. Sehr genau erinnert sich der ehemalige Kölner Gymnasiallehrer daran, dass einen Monat nach der Wahl im Bundestag Konrad Adenauer nur mit einer einzigen Stimme Mehrheit, nämlich seiner eigenen, zum ersten Bundeskanzlergewählt wurde.
Als Oberbürgermeister sei Adenauer ein Glück für die Stadt Köln gewesen, schwärmt Beutler. „Ich sage immer, dass er nach Claudius und dem Erzbischof Bruno der dritte Gründer Kölns war“, sagt Beutler, selbst Historiker. Allerdings als Bundeskanzler verscherzte sich „der Alte“ schnell Beutlers Sympathien, als er sich nach der Wahl für die Wiederbewaffnung Deutschlands einsetzte. Für Beutler eine nicht nachvollziehbare Forderung Adenauers. „Ich kam von der Front gesund nach Hause, aber zwei meiner vier Schwestern haben hier den Krieg nicht überlebt.“ Verkehrte Welt. „1949 war deshalb das erste und das letzte Mal, dass ich CDU gewählt habe.“
Am Ende der Untersekunda am Gymnasium Kreuzgasse – das damals tatsächlich noch in der Kreuzgasse in der Kölner Innenstadt war – war sein kompletter Jahrgang eingezogen und an die russische Front geschickt worden. „Mit dem Zeugnis und der Versetzung bekam ich einen Reifevermerk – auf einem halben DIN A4-Blatt, denn wir mussten ja Papier sparen“, erinnert er sich. Dieses halbe Blatt sei sein Riesenglück gewesen, denn damit musste er nach Kriegsende nicht die verpassten Schuljahre nachholen, sondern konnte gleich sein Studium an der Uni Köln aufnehmen.
Am Sonntag wird er zum 19. Mal seine Stimme bei einer Bundestagswahl abgeben.
Ergebnisse Bundestagswahl 1949
50er: Einen Fernseher hatte kaum einer
Ursula Terhardt, 85, wurde als zweites von fünf Kindern in Gladbeck geboren. Zum Lehramtsstudium kam sie 1953 nach Köln, wo sie seitdem lebt. Sie ist ehemalige Schulamtsdirektorin.
Die Wahl 1953 ist eine erste Abstimmung über den Kurs Konrad Adenauers, der sich für die Integration Deutschlands in der westlichen Welt und die Wiederbewaffnung stark macht. Die CDU gewinnt mit Abstand. Ursula Terhardt erinnert sich an den Wahlabend am 6. September 1953: „Wir standen auf dem Rathausplatz in meiner Heimatstadt Gladbeck und haben gefeiert. Und ich habe immer nur gedacht: Demokratie kann so schön sein.“ Kurz zuvor war sie 21 geworden.
Und zum ersten Mal hatte sie bei einer Bundestagswahl ihre Stimme abgeben dürfen. Ein besonderer Moment für jemanden, der in einer politisch sehr interessierten Familie aufgewachsen ist. Und in der politische Teilhabe gerade auch nach dem Krieg in der neugegründeten Bundesrepublik etwas Selbstverständliches war – obwohl die Familie mit ihrer christlichen-demokratischen Grundeinstellung in Gladbeck lange in der Minderheit war.
Heimatstadt kommunistisch geprägt
Ihre Heimatstadt im nördlichen Ruhrgebiet sei lange Jahre kommunistisch geprägt gewesen, erinnert sich die heute 85-jährige Ursula Terhardt. „Ich weiß, dass man meinem Vater geschäftliche Vorteile in Aussicht gestellt hat, wenn er Mitglied der KPD wird oder zumindest in die SPD eintritt.“ Das aber kam für den überzeugten Katholiken nicht in Frage. Stattdessen traten beide Eltern nach dem Krieg in die neugegründete CDU ein, ihre Mutter zog kurze Zeit später für die Partei in den Stadtrat. Auch die junge Ursula fand in der Union schnell ihr politisches Zuhause und half, schon lange bevor sie selbst wählen durfte, Wahlplakate aufzuhängen oder Wahlzettel zu verteilen. „Das war das einzige, wodurch man in der Öffentlichkeit den Wahlkampf mitbekam, Fernsehen hatten die meisten damals ja noch nicht“.
Im Wahlkampf mittun durfte Ursula Terhardt als junge Frau übrigens nur tagsüber. „Abends hat mir das mein Vater verboten. Denn dann zogen die Anhänger der verschiedenen Parteien durch die Straßen, plakatierten wild, überklebten die Plakate der anderen und gerieten dabei auch schon mal heftig aneinander.“
Wählen ist Bürgerpflicht
1953 zog Ursula Terhardt zum Lehramtsstudium nach Köln, ihr Erstwohnsitz aber blieb vorerst Gladbeck. Und so ging sie am Wahlsonntag 1953 auch dort gemeinsam mit der älteren Schwester und den Eltern zum Wahllokal. „Das war gleich gegenüber der elterlichen Wohnung in einer Kneipe, die von der Mutter einer Freundin betrieben wurde“, erinnert sie sich. „Die Männer kannten die Kneipe gut, vielleicht hat man deshalb ja das Wahllokal dort untergebracht“, mutmaßt sie lachend. Die Wahl jedenfalls habe dann einen für Gladbeck überraschenden Ausgang genommen: „Zum ersten Mal konnte die CDU den Wahlkreis gewinnen, und mit dem Bergmann Johann Harnischfeger zog erstmals ein CDU-Mann in den Bundestag ein“, erinnert sich Terhardt.
Seit ihrer ersten Wahl ist für die pensionierte Schulamtsdirektorin Wählen Bürgerpflicht. Viele Jahre hat sie als Wahlvorstand verschiedene Wahlen begleitet, auch die erste Europawahl 1979. „Ich weiß noch, dass mir der Wahltag furchtbar lang vorkam. Es war sonnig, und kaum einer kam.“ Sie selbst habe nur ein einziges Mal eine Wahl verpasst: „Das war eine Kommunalwahl in den 60-er Jahren. Da war mein Erstwohnsitz schon in Köln, ich aber lag krank bei meinen Eltern zu Hause in Gladbeck“. Damals habe die CDU in Köln knapp verloren. Ein bisschen schuldig an der Niederlage fühlt sich Ursula Terhardt heute noch. Ihre Stimme für die Wahl hat sie deshalb vorsichtshalber schon per Briefwahl abgegeben.
Ergebnisse Bundestagswahl 1953
Ergebnisse Bundestagswahl 1957
60er: Brandt zu bewundern, war als Kölner nicht selbstverständlich
Horst Bödeker, 81, ist verheiratet, mehrfacher Großvater und als Seniorensportwart noch aktiv in der Leichtathletik.
Ich war damals in der Baubranche tätig: Das heißt in einer Baumaschinengroßhandlung, das waren die Vorläufer heutiger Baumärkte, nur dass wir auch riesige Kräne verkauften. Mit 19 fing ich dort als Lehrling an und bin dort 49 Jahre geblieben, war später Prokurist und Geschäftsführer des Unternehmens. Man bekam bei uns alles, was man brauchte, um Straßen und Häuser zu bauen. Wir wurden gebraucht. Köln war nach dem Krieg am Boden. Nie werde ich den Anblick vergessen, den ich als Kind von der Schälsick aus hatte: Brücken und Häuser lagen in Schutt und Asche, und der Dom sah wie gerupft aus. Ich habe also in einer Branche gearbeitet, die mit dem Wiederaufbau der Stadt eng verbunden war. Niemand fragte damals nach Rabatten oder sowas, sondern fragte nur: „Wann kannst du liefern?“
Ressentiments teilweise überwunden
Adenauer war zu dieser Zeit natürlich immer noch sehr respektiert, er hatte große Verdienste, was die Wirtschaft betraf, wie ich finde. Und ich erinnere mich an die Versöhnung mit den Franzosen. Das war spektakulär. Denn mein Opa bekam immer noch Bluthochdruck, wenn er nur das Wort Frankreich hörte. Die Ressentiments schienen zumindest auf der politischen Ebene überwunden. Aber ich höre Adenauer auch noch sagen, wie gefährlich die Sowjets sind. Und dann kam Brandt. Der war anders. Den bewunderte ich sehr, und ich fand es schwierig, in Köln dazu zu stehen. In Köln wählte man christlich, man selbst war Messdiener gewesen, also kam für viele nur die CDU in Frage. Aber ich habe Brandt mit vollem Einsatz gewählt, weil er eben auch den anderen die Hand gereicht und Brücken zum Osten gebaut hat. Und darum geht es doch, oder? Ohne Verständigung läuft doch nichts. Darum wähle ich auch. Man muss doch irgendwie miteinander auskommen, miteinander reden und sagen, was man denkt. Das können wir hier – anders als in anderen Ländern – und deshalb gebe ich gerne meine Stimme ab. Auch wenn ich sagen muss, dass im Vergleich zu den Wahlkämpfen, die ich als junger Mann erlebt habe, der heutige ganz schön lahm ist.
Ergebnisse Bundestagswahl 1961
Ergebnisse Bundestagswahl 1965
Ergebnisse Bundestagswahl 1969
70er: Überall wurde über Politik geredet
Michael Hedrich, 67, war langjähriger Leiter der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Bergisch Gladbach. Er ist für das Magazin noch oft tätig als Pilz-und Eifel-Experte. Er lebt in Kempenich.
Natürlich ist mir die Wahl von 1972 in Erinnerung geblieben. Ich war damals Anfang 20, studierte Theaterwissenschaften und Germanistik und lebte in einer Kommune in Sürth. Ich war schnell von den Eltern weggezogen, um mit neuen Lebensmodellen zu experimentieren. Willy Brandt war für uns der strahlende Held, der für Versöhnung und Frieden, für den überfälligen Aufbruch in eine neue demokratische Gesellschaft stand. Überall waren noch Alt-Nazis vertreten, die Ewig-Gestrigen, mit denen wir nichts mehr zu tun haben wollten. Für die waren wir Kommunisten.
Nur Schwarz und Weiß
Eigentlich wurden alle, die langes Haar trugen, so beschimpft. Und ich hatte sehr langes Haar. „Geht doch nach drüben“, war auch eine der gängigen Abweisungen. Deutschland war polarisiert. Es gab nur Schwarz und Weiß, nur die Guten und die Bösen. Keine Nuancen. Man konnte den politischen Auseinandersetzungen gar nicht aus dem Weg gehen, es gab nicht selten Schlägereien. Überall wurde diskutiert, in den Kneipen, auf der Straße, in der Bahn. Wir versuchten, zu agitieren, das war das Wort damals, und wollten die Arbeiter von unserem Standpunkt überzeugen.
Von dem klaren Wahl-Ergebnis waren wir alle sehr überrascht und euphorisiert. Aber das hielt ja leider nicht lange. Nach zwei Jahren trat Brandt wegen des Spionagefalls zurück – und Helmut Schmidt war uns zu kühl für eine Identifikationsfigur. Unser Engagement ließ nach. Und was soll ich sagen: Meine Erwartungen haben sich am Ende nicht erfüllt. Ich finde nicht, dass Deutschland freier geworden ist. Die Abhängigkeitsstrukturen sind nur andere. Ist es nicht die Wirtschaft, die heute vieles dominiert?
Ergebnisse der Bundestagswahl 1972
Ergebnisse der Bundestagswahl 1976
80er: „Wenn Strauß Kanzler wird, wandere ich aus“
Käthe Jowanowitsch, 59, Journalistin, wohnt in Bonn, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Im Jahr 1980 war ich 22 Jahre alt. Es war einer der aufregendsten Wahlkämpfe, die ich mitbekommen habe. Aufregend und emotionsgeladen, vor allem deshalb, weil der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat der Union wurde. Da kam richtig Fahrt in die politische Auseinandersetzung zwischen SPD und Union – überhaupt kein Vergleich mit dem Merkel-Schulz-Schmusekurs in den zurückliegenden Wochen.
Es gab damals auf jeder Seite Kampagnen gegen den Gegner und Verbal-Attacken, die an Beleidigungen grenzten. Sozialisten und Kommunisten hatte Strauß schon lange auf dem Kieker. Er ätzte gegen linke Intellektuelle, die er als „Ratten und Schmeißfliegen“ bezeichnete, und rückte die Sozialdemokraten in die Nähe der Sowjetunion.
Der Bayer hat immer polarisiert
Das war zu Zeiten des Kalten Krieges ein Frontalangriff. Sicherheit könne es mit den Sozialdemokraten nicht geben. Nicht nach außen und auch nicht im Inneren. Der Deutsche Herbst lag noch nicht lange zurück. Und es spielte für Strauß überhaupt keine Rolle, dass SPD-Kanzler Helmut Schmidt im Kampf gegen den RAF-Terrorismus eine harte Linie verfolgte. Strauß war zum Kanzlerkandidaten geworden, weil er selbst in der CDU als erfolgversprechender galt als Helmut Kohl. Der Bayer hat immer polarisiert, und in der Union hoffte man, dass er gerade mit seiner bajuwarisch-polternden Art – im Unterschied zum moderaten Auftreten des Hanseaten Schmidt – bei vielen Wählern punkten würde.
Strauß hatte damals ja schon eine lange politische Geschichte hinter sich, dazu gehörten Skandale wie die „Spiegel“-Affäre oder der Starfighter-Deal. Die hatte er alle erstaunlich gut überstanden, aber vergessen waren sie nicht. Jetzt stilisierte er sich auf den Wahlplakaten zum „Kanzler für Frieden und Freiheit“ und machte aus der Bundestagswahl eine Entscheidung auf Leben und Tod: „Freiheit oder Sozialismus“.
„Lieber kalter Krieger als warmer Bruder.“
Alles, wofür Strauß stand, klang nach einem Rückfall in reaktionäre Zeiten. Als wolle er die Zeit zurückdrehen. Wie weit? Das war die große Frage. Es kursierten damals Sammlungen mit Zitaten von ihm. Eines davon, daran erinnere ich mich, lautete: „Lieber kalter Krieger als warmer Bruder.“ Wir hatten die Befürchtung, mit Strauß würde es ein völlig anderes Deutschland geben. Und deshalb war für mich klar: Wenn der Kanzler wird, wandere ich aus. Übrigens waren auch in München, wo ich damals wohnte, viele gegen ihn, nicht nur im studentischen Milieu. Es war ein richtiger Lagerwahlkampf, in dem sich viele Künstler und Intellektuelle gegen Strauß engagierten, unter anderem mit einem Film. Der hieß „Der Kandidat“ und war in linken Kreisen ein Riesenerfolg. Genauso wie die Kampagne mit den „Stoppt-Strauß“-Plaketten. In Bayern allerdings wurde eine Schülerin, die eine solche Plakette trug, von der Schule verwiesen. Kein Wunder, dass in diesem unerbittlichen Wahlkampf die Grünen, die zum ersten Mal bundesweit antraten, kaum auffielen. Mit ihren Sonnenblumenplakaten und Umweltslogans gingen sie im allgemeinen Getöse unter.
Ergebnisse der Bundestagswahl 1980
Ergebnisse der Bundestagswahl 1983
Ergebnisse der Bundestagswahl 1987
90er: Helmut Kohl fast vergöttert
Kathy Kempen, 47, stammt aus Ost-Berlin. 1998 zog sie der Liebe wegen nach Pulheim. Sie ist Krankenschwester und engagiert sich für die Hilfsorganisation Archemed, für die sie regelmäßig nach Eritrea reist.
Im Jahr 1990 gab es für uns DDR-Bürger sogar zwei Wahlen: Im März stand die erste demokratische Volkskammerwahl an. Da bin ich aber nicht hingegangen. Für mich waren alle, die zur Wahl standen, Repräsentanten der Diktatur, inklusive Lothar de Maizière, der damals der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR wurde. Das Vertrauen zum eigenen Staat war bei mir aber schon lange nachhaltig gestört. Meine Eltern waren weder linientreu noch Revoluzzer. Sie hatten uns Kinder angehalten, uns unauffällig zu verhalten. Dennoch wurden sie wiederholt aufgefordert, in die Partei einzutreten oder den Kontakt zu unserer Westverwandtschaft in Mülheim an der Ruhr aufzugeben. Ich werde auch nie vergessen, wie ein Stasi-Offizier einmal meinen Vater aufsuchte. Oder wie ich kurz vor der Wende, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, verhaftet wurde und eine Nacht im Gefängnis verbrachte.
Nicht ganz so abgehängt wie Leute auf dem Dorf
Für mich war jedenfalls früh klar, dass der Weg zum Abitur und damit zu einem Medizinstudium, was immer mein Ziel war, nicht möglich war. Ich habe dann halt eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Wir in Ost-Berlin hatten, was das Leben an sich anging, gar nicht so viele Nachteile. Wir hörten RIAS und hatten Westfernsehen. Wir fühlten uns nicht ganz so abgehängt wie Leute auf dem Dorf in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern etwa. Als dann Ende 1990 die erste gesamtdeutsche Wahl anstand, war das ein für uns etwas Erhebendes. Wir hatten das Gefühl, endlich wirklich mitreden zu dürfen. Wir fühlten uns ernst genommen von unserem neuen Staat, der Bundesrepublik. Den Helmut Kohl haben wir damals fast vergöttert. Wir waren ihm dankbar. Gleichzeitig war ich – ich war damals 20 – gespannt auf die Zukunft. Später war ich etwas enttäuscht darüber, wie langsam es mit der Einheit in den Köpfen voranging. Doch 1990 freuten wir uns, dass wir endlich frei wählen konnten. Das Wählen an sich war einfach alternativlos. So wie es das heute für mich auch immer noch ist. Ich bin beruflich alle halbe Jahre in Eritrea und helfe in einem Krankenhaus. Immer wenn ich dort am Flughafen ankomme und durch zahllose Kontrollen muss, denke ich „Ist wie damals in der DDR“. Für mich ist das Leben in einem freien Land immer noch nicht selbstverständlich und genausowenig das Recht, wählen zu dürfen.
Kohl wird abgewählt – Erinnerungen an die Euphorie über den Wechsel
Miriam Vogel, 39, arbeitet für die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn. Sie lebt in Köln.
Mir fällt vor allem die Wahl 1998 ein. Ich war damals zwanzig und hatte gerade angefangen, unter anderem Politikwissenschaft, zu studieren. Großgeworden in der Ära Kohl, kam mir das wie ein Paukenschlag vor. Ich erinnere mich an die Wechselstimmung, die große Euphorie. Ich sehe Gerhard Schröder und Joschka Fischer noch auf der Bühne mit dem rot-grünen Buch, in dem das Koalitionsprogramm aufgeführt war. Joschka Fischer war nach seinem „langen Lauf zu sich selbst“ ganz drahtig und voller Dynamik. Ich glaube, Lafontaine war auch noch dabei – und bekanntlich bald wieder weg. Es gab Momente dieser Regierung, die ich sehr stark fand, wie das Nicht-Mitziehen beim Krieg gegen den Irak. Ich erinnere mich an den Triumph, als bewiesen war, dass die Begründung der Amerikaner auf Lügen fußte – der damalige US-Außenminister Powell musste das ja zugeben. Aber es gab auch Desillusionierendes, zum Beispiel die Hartz-Reformen, auch weil sie gegenüber den eigenen Leuten so schlecht vermittelt wurden.
Man dachte damals schon, Deutschland orientiere sich nun an Großbritannien und am „Dritten Weg“ der Sozialdemokraten. Ich erinnere mich auch an die massiven Diskussionen, gerade bei den Grünen, sich als Deutsche erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg an einem Krieg, dem im Kosovo, zu beteiligen, Es kam zu einer absoluten Zerreißprobe. Es ging ans Eingemachte. Deutschland schien noch mehr mit sich selbst beschäftigt zu sein und entschied eher in eigener Sache. Das hat sich geändert. Durch die globalen Krisen ist die Rolle Deutschlands heute eine andere. Nach meiner Wahrnehmung ist die Führungsverantwortung innerhalb der internationalen Gemeinschaft gewachsen.
Ergebnisse der Bundestagswahl 1990
Ergebnisse der Bundestagswahl 1994
Ergebnisse der Bundestagswahl 1998
2000er: „Endlich Deutscher“
Algin Artat, 50, stammt aus der Türkei. Er kam vor mehr als 20 Jahren nach Deutschland. Er ist Brotfabrikant und lebt in Leverkusen.
Es war die erste Wahl, an der ich in Deutschland teilnehmen durfte. Und eine neue Erfahrung für mich, weil ich mich erst dadurch wirklich wie ein deutscher Staatsbürger gefühlt habe. Ich hatte auch schon vorher hier gelebt, gearbeitet, meine Steuern bezahlt. Aber ich konnte nicht mitreden und fühlte mich ausgegrenzt. Das darf man nicht unterschätzen. Man spricht viel von Integration, aber die Wahlberechtigung gehört dazu und ist nicht leicht zu bekommen. Auch wenn man alle Unterlagen zusammen hat. Zumindest war es bei uns so. Als meine Familie und ich uns entschieden hatten, hier zu bleiben, haben wir die Staatsbürgerschaft beantragt und mindestens ein Jahr lang darauf gewartet. Erst dann konnte ich wählen.
Pflicht und ein Recht
Ich kann mich zwar daran erinnern, dass es den Wechsel von Schröder zu Merkel gegeben hat. Für mich persönlich war aber allein die Tatsache entscheidend, wählen zu können. Es ist eine Pflicht und ein Recht und ich war ganz einfach erleichtert. Ich kenne viele, die sich über Politik beschweren, aber nicht wählen gehen. Das ist einfach schade, denn das ist doch der Sinn von Demokratie. Anders kann man doch nicht rüberbringen, was man will. Ich weiß nicht, ob ich mit der Wahl wirklich etwas bewirken kann, aber ich finde, man muss es unbedingt versuchen.
Ergebnisse der Bundestagswahl 2002
Ergebnisse der Bundestagswahl 2005
Ergebnisse der Bundestagswahl 2009
2010er: Demokratische Pflicht
Kilian Quinkler, 20, hat auf der Kölner Liebfrauenschule sein Abitur gemacht und studiert jetzt in Münster Zahnmedizin. Die Wahl am Sonntag ist seine erste Bundestagswahl.
Also, so ein richtiger Erstwähler bin ich ja eigentlich nicht, denn ich habe schon an der nordrhein-westfälischen Landtagswahl in diesem Jahr und der Kommunalwahl, bei der Henriette Reker zur Oberbürgermeisterin in Köln gewählt wurde, teilgenommen. Auch wenn sich das jetzt vielleicht etwas pathetisch anhört – ich fand das einfach eine schöne Aktion. Irgendwie hatte ich ein Gefühl wie bei einem kleinen Staatsakt. Zumindest haben ein paar Freunde und ich die Stimmabgabe zu einem Event gemacht: Früh aufstehen, ab ins Wahllokal und danach zum Mittagessen zusammensetzen.
Die Demokratie hat Schwachstellen
Abgesehen vom persönlichen Erlebnis finde ich, sollten wir diese Wahl – oder eigentlich jede Wahl – nicht nur als ein selbstverständliches Recht abtun. Sie ist auch in gewisser Weise eine demokratische Pflicht. Kaum vorstellbar, dass am Ende das Wetter die Wahlbeteiligung bestimmt. So nach dem Motto: Bei Regen fällt die Demokratie aus. Gerade als junger Mensch sollte man sich für Entwicklungen in unserer Gesellschaft interessieren. Auch wenn es noch weit weg ist: Themen wie die Rente gehören dazu. Gucken wir uns doch den Brexit an, wie erschreckend das war: Die Alten haben praktisch den Ausstieg Großbritanniens aus der EU in die Wege geleitet, weil die Jungen nicht abgestimmt haben. Natürlich ist Demokratie nicht immer gleich ein Garant, dass alles gut läuft, was man an Trump und Erdogan sieht, die ja durch Wahlen an die Macht gekommen sind. Die Demokratie hat Schwachstellen, aber mir fällt kein besseres Gesellschaftssystem ein. Was ich jetzt allerdings schade finde: Wegen eines Praktikums habe ich mich für eine Briefwahl entscheiden müssen – ich hoffe, ich habe das Richtige gewählt! Tja, jetzt geh ich also nicht ins Wahllokal, kein Event. Aber ich werde mich dann abends mit Familie oder Freunden zusammensetzen. Und dann gucken wir mal, was so gewählt worden ist.