Die Deutschen machen es spannend – auch über den Wahlabend hinaus. Die größte Gewissheit am Tag danach ist, dass so vieles ungewiss ist.
■ Deutschland bekommt nach 16 Jahren Angela Merkel einen neuen Bundeskanzler. Doch wer es sein wird, ist völlig offen angesichts eines Kopf-an-Kopf-Rennens von Union und SPD.
■ Wahrscheinlich wird die neue Regierung von einem Dreierbündnis gebildet, in dem die Grünen und die FDP vertreten sind. Aber ob die dritte (und quantitativ stärkste) Farbe schwarz oder rot sein wird, das kann noch niemand mit Bestimmtheit sagen.
■ Weder der spektakuläre Erfolg des einen Kanzlerkandidaten (Olaf Scholz) noch der historische Verlust des anderen (Armin Laschet) entscheidet darüber, wer von beiden ins Kanzleramt einziehen kann und wer draußen bleiben muss.
Auch wenn die SPD ihren vermeintlich deutlichen Vorsprung vor der Union aus den Wochen vor der Wahl eingebüßt und die Union laut Hochrechnungen auf den letzten Metern Boden gut gemacht hat, darf Scholz sich als Wahlsieger feiern lassen. Nachdem seine Partei noch im Frühjahr bei aussichtslosen 15 Prozent gelegen hatte, ist das eine spektakuläre Auferstehung der von vielen totgeglaubten SPD. Selbstbewusst kann sie in Sondierungsgespräche zur Bildung einer Ampelkoalition gehen.
SPD und Grüne sind sich politisch am nächsten
Für eine von Scholz’ SPD geführte Koalition unter Beteiligung der Grünen spricht vieles: Beide Parteien sind sich politisch am nächsten. Der Anspruch sozialer Gerechtigkeit mit Fokus auf Mindestlohn und Renten trifft auf das Erfordernis innovativer Gesellschafts- und Klimapolitik.
Die SPD besteht jedoch nicht nur aus Scholz, hinter dem sich viele Unbekannte auftun: Wie beweglich werden die Parteichefs Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken oder der im Wahlkampf kaum sichtbare Parteilinke Kevin Kühnert bei den Zukunftsfragen Klima und Europa, Finanzen und Digitalisierung wirklich sein?
Noch zentraler für ein Zustandekommen der Ampel wird es sein, ob die SPD die programmatischen Gräben zur FDP zuschütten kann. Gräben, die tiefer sind als zwischen den Liberalen und den Grünen. FDP-Chef Christian Lindner wird den Preis für eine Ampel sehr, sehr hoch zu treiben suchen.
Ernsthaft und zuerst verhandeln will Lindner eh viel lieber ein Jamaika-Bündnis. Dass die Union nur als Zweitplatzierte durchs Ziel gegangen ist, macht es Lindner im Umgang sogar noch einfacher.
Auch mit der gewahrten Option aufs Kanzleramt ist das desaströse Ergebnis der Union eine Bruchlandung, aber wenigstens kein Totalschaden für den Spitzenkandidaten. Laschet, eigentlich ein Mann mit Nehmerqualitäten, hatte sich in monatelangen unionsinternen Machtkämpfen aufgerieben. Im Wahlkampf überzeugte er weder als Person noch als Führungsfigur der Union. Seine Kampagne scheiterte dann an einem unglücklichen Moment, einem unbedachten Lacher, dessen Folgen er im Schlussspurt nicht mehr vollends korrigieren konnte.
Jamaika ist rechnerisch möglich
Dennoch hat Laschet die Chance zu regieren. Jamaika ist rechnerisch möglich. Der Preis, den Union und FDP an die Grünen zahlen müssen, wird aber ebenfalls sehr hoch sein. In Berlin wird bereits darüber spekuliert, dass Schwarz-Gelb der Öko-Partei anbieten könnte, die Grüne Katrin Göring-Eckardt als erste Bundespräsidentin mitzutragen. Ein Tempolimit auf den Autobahnen und ein vorgezogener Kohleausstieg sollen ebenfalls verhandelbar sein.
Wie stark Laschets Position sein wird, hängt aber auch von seinem auf Krawall gebürsteten Widersacher Markus Söder ab. Dem geschwächten NRW-Ministerpräsidenten steht mithin erneut eine parteiinterne Zerreißprobe bevor. Schafft er es am Ende nicht, ein Regierungsbündnis zu schmieden, dürfte seine politische Karriere beendet sein.
15 Prozent sind für Grüne enttäuschend
Die Grünen haben im Wahlkampf durch persönliche Fehler ihrer Spitzenkandidatin den ganz großen Coup verpasst. Rund 14 Prozent sind für die mit Kanzlerinnen-Ambitionen gestartete Annalena Baerbock enttäuschend. Dennoch wird ihr im Fall einer Regierungsbeteiligung ein Schlüsselministerium zufallen. Ob sie aber im internen Wettstreit mit Robert Habeck vorne bleiben wird, steht dahin.
Ampel oder Jamaika? Beide Koalitionsmodelle wurden oder werden in Deutschland auf Landesebene schon praktiziert. Dass Dreierbündnisse belastbar sind und für verantwortungsvolles Regierungshandeln stehen können, ist längst bewiesen.
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Auf dem langen Weg dahin wird es ein hartes Ringen um Sachfragen und Personalien geben. Anders als im Wahlkampf, kommt es für die Verhandlungsführer dann nicht so sehr auf Profilierung und auf klare Kante an, sondern auf die Kunst des Zugeständnisses, des Kompromisses und der Gesichtswahrung. Der König der Sondierer wird am Ende auch der Kanzler sein.