Bislang musste CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann einige Male seinen Parteichef verteidigen, doch die großen Herausforderungen kommen noch.
Parteichef und sein GeneralFriedrich Merz und Carsten Linnemann – manchmal mit vertauschten Rollen
Carsten Linnemanns Kopf wird hochrot. Von einer Sekunde auf die andere. Der CDU-Generalsekretär haut mit der Faust auf den Tisch. Limonadenflaschen klirren. „Es kann doch nicht sein“, ruft er, „dass die bis Ende Januar eine Arbeitsgruppe bilden wollen, um über ein Konzept zur Bezahlkarte für Flüchtlinge zu diskutieren!“ Er schüttelt mit dem Kopf. Man müsse eine GmbH unter staatlicher Aufsicht gründen, da kluge Köpfe reinsetzen und denen sagen, dass „in ein paar Wochen das System stehen muss“. Da ist seine Stimme schon wieder leiser, Linnemann ist wieder auf Normaltemperatur.
Wer den CDU-Politiker verstehen will, muss wissen, was er gar nicht mag. Was Linnemann, der selten schlecht gelaunt wirkt, rasend macht, ist beispielsweise die aufgeblähte Bürokratie. Er selbst gibt sich dagegen zupackend. Wohl auch deshalb lautet der Titel seines Podcasts „Einfach mal machen“. Mehr Mut, mehr Elan wünscht er sich in der Politik und für seine CDU. Hapert es daran, fasst sich der 46-Jährige an den Kopf, so wie an diesem kalten Sonntagvormittag in seiner Heimatstadt Paderborn.
Carsten Linnemann: Faust auf dem Tisch
Der lokale Schützenverein hat zu einem Empfang in einer kleinen, rustikal gehaltenen Halle geladen. Es werden Softdrinks und Bier gereicht. Der CDU-Mann trinkt Cola. Lokalpolitikerinnen und -politiker und Bürger sitzen an Tischen und unterhalten sich, Linnemann mittendrin. Das Gespräch dreht sich um die politische Großwetterlage in Berlin, und deren Auswirkungen auf Paderborn. Viele der Anwesenden beschäftigt die Migrationspolitik. Linnemann hört sich an, was sie zu sagen haben. Die kurze Zusammenfassung: Es läuft schlecht. Zu viele Geflüchtete, zu wenig Platz und zu große Spannungen. Zudem macht die AfD mit Flugblättern Stimmung gegen Geflüchtete und erhöht so den Druck auf die CDU vor Ort.
Das ärgert den Politiker, gerade wenn Bund und Länder schleppend agieren. Besonders regt er sich darüber auf, wenn es wie im Fall der Bezahlkarte auch an Ministerpräsidenten aus den eigenen Reihen liegt. In solchen Momenten landet die Faust auf dem Tisch.
Den Wahlkreis Paderborn vertritt Carsten Linnemann seit 2009 im Bundestag. Der Westfale wird 1977 als Sohn einer Buchhändlerfamilie geboren. Er studiert Betriebswirtschaft und promoviert in Volkswirtschaftslehre. Bevor er in den Bundestag einzieht, arbeitet er bei der Deutschen Industriebank. Später wird er Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), der innerparteilichen Interessenvertretung der mittelständischen Unternehmer in der CDU.
Friedrich Merz und Carsten Linnemann sind auf einer Wellenlänge
Dass er jetzt genau seit sechs Monaten das Amt des Generalsekretärs innehat und am heutigen Freitag die Klausur des CDU-Bundesvorstands eröffnet, ist möglich, weil Friedrich Merz nach drei Anläufen im Jahr 2021 das Rennen um den Parteivorsitz macht. Der konservative Wirtschaftsexperte probiert es erst mit dem liberalen Sozialpolitiker Mario Czaja als Generalsekretär, nach 16 Monaten vollzieht Merz den Strategiewechsel und holt sich Linnemann an die Seite. Nicht nur programmatisch sind die beiden Männer auf einer Linie, auch persönlich verstehen sie sich besser.
Linnemann ist viel im Land unterwegs. Veranstaltungen wie in Paderborn sind für seine Arbeit zentral. Manches, was er dort hört, berichtet er dann in Talkshows. Bürgerstimmen eigenen sich gut, um der Bundesregierung die Leviten zu lesen. Das ist eine Rolle des Generalsekretärs Linnemann: Attacke pointiert vorbringen und Präsenz zeigen. Die andere Rolle: Strategisch in die Partei hineinwirken. Bei dieser Arbeit kommt dem Politiker nach acht Jahren an der Spitze der MIT zugute, dass er ein gut gefülltes Adressbuch besitzt. Wenn es Unstimmigkeiten gibt, ruft er direkt an. Mittlerweile sei die interne Abstimmung viel besser geworden, berichtet ein hochrangiger CDU-Landespolitiker.
Steuerreform auf der Serviette
Nach dem Empfang des Schützenvereins sitzt Linnemann bei seinem Lieblingsasiaten in Paderborn. Dem Restaurantbesitzer hat er mal dabei geholfen, die Hürden der Ausländerbehörde zu überwinden, um einen Koch aus dem Ausland anzustellen. Bei Chilihähnchen und Bratreis erzählt der 46-Jährige von seinen Reformvorschlägen. Linnemann ist die treibende Kraft hinter dem neuen Grundsatzprogramm. Vor wenigen Wochen stellte er den ersten Entwurf vor – der von vielen als Abschied von der Merkel-Ära gesehen wird. Bei Themen wie Migration, Islam oder Soziales will sich die Parteispitze konservativer aufstellen. Der Generalsekretär räumt aber auch mit lang geltenden Positionen auf: So dringt er auf eine Steuerreform, nach der Millionäre mehr Einkommensteuer zahlen würden. Intern wird das kritisch gesehen.
Konfrontiert man ihn damit, überlegt er nicht lange. Er beugt sich nach hinten und wieder nach vorn, rückt seine Brille zurecht. Dann schnappt er sich einen Stift, eine Papierserviette und kritzelt drauf los. „Unter dem Strich werden alle entlastet“, sagt er und zeichnet eine Kurve – den Mittelstandsbauch. Den wolle die CDU „abschaffen“. Dann malt er eine flachere Linie. Die Kurve werde mit der Reform flacher „und davon profitieren alle“, so Linnemann. Normalverdiener müssten entlastet werden, sagt er. Also ganz einfach: Eine Steuerreform auf der Serviette statt eine Steuererklärung auf dem Bierdeckel, wie von Merz 2003 gefordert. Die neue CDU.
Carsten Linnemann ist ideale Besetzung eines Generalsekretärs
Aus Linnemann scheinen die Ideen nur so herauszusprudeln, manchmal kommt man da gar nicht hinterher, so schnell redet er. Eine Auswahl: steuerfreie Überstunden, steuerfreies Weiterarbeiten in der Rente und eine Arbeitspflicht im Bürgergeld – einiges davon findet sich auch im Beschlusspapier für die Klausur in Heidelberg. Inwieweit das überhaupt umsetzbar ist? Noch unklar. Aber der Politiker versteht es, die Themen in der Öffentlichkeit zu platzieren. Wenn er sich etwas überlegt hat, soll es jeder wissen. Als Generalsekretär sei er die perfekte Besetzung, heißt es auch wegen seines Elans in der CDU.
Doch manchmal kommt ihm CDU-Chef Merz dazwischen und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.
Als Linnemann im Sommer Schnellverfahren für Freibad-Randalierer fordert und die Schlagzeilen dominiert, ist es Merz, der mit Aussagen zur AfD für mehr Wirbel sorgt. Als Merz den Eindruck erweckt, Flüchtlinge kämen nach Deutschland, um sich die Zähne neu machen zu lassen, springt Linnemann ihm bei und sorgt dafür, dass keiner aus der CDU-Spitze öffentlich Kritik äußert.
Carsten Linnemann agiert mit Bedacht
Dabei sollte es umgekehrt sein. Es ist eher die Rolle eines Generalsekretärs, gelegentlich über die Stränge zu schlagen. Linnemanns Kommunikationsstrategie ist aber eine andere. Zwar kann er sich schnell aufregen, aber er agiert mit Bedacht. Auch aus Sorge, Fehler zu machen. Noch mal falsch verstanden werden wie 2019, als er eine Vorschulpflicht für Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen fordert, will er nicht. Wegen des Shitstorms stampft er damals sogar seinen Twitter-Account (heute X) ein. Bis heute hat er ihn nicht reaktiviert.
Über die spezielle Rollenverteilung mit Merz, die in der CDU nicht jedem gefällt, sagt er: „Friedrich Merz ist Oppositionsführer, er muss auch mal zuspitzen.“
Jahrelang betreibt Linnemann als MIT-Chef die innerparteiliche Opposition, dringt auf einen konservativeren Kurs und legt sich mit der Parteispitze an. „Die machen eh, was sie wollen“, lautet sein Buch von 2017, als ob er als Vertreter einer Regierungspartei nicht Teil des „die“ sei. In seinem Wahlkreisbüro hängt ein Foto, auf dem er bei einem Parteitag neben Angela Merkel sitzt. Er guckt sie kritisch an, sie guckt weg. So in etwa lässt sich die damalige Beziehung von Linnemann zur Altkanzlerin beschreiben.
Er warnt über Jahre vor inhaltlicher Leere und wird später mit dem Wahldebakel 2021 Recht behalten. Im politischen Berlin ist er einer der wenigen, der Merz als einen Ausweg sieht.
In der Jungen Union hätten sie sich Linnemann gut als Parteichef vorstellen können, dort ist er extrem beliebt. In der Parteijugend wird beklagt, dass er sich nicht „getraut“ habe, gegen Merz anzutreten. Er selbst sieht das anders. Die Frage des Parteivorsitzes habe sich nicht gestellt. „Ich war schon damals der Überzeugung, dass Friedrich Merz der richtige Parteivorsitzende ist“, sagt Linnemann.
Eine Schicksalsgemeinschaft
Als Politiker hat er sich an eng Merz‘ Laufbahn geknüpft, beide bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Linnemann kann mit Merz aufsteigen oder eben auch absteigen.
Zunächst steht aber im Juni die Europawahl an, im Herbst die Landtagswahlen im Osten. Besonders fürchten die Christdemokraten die drohenden Machtverhältnisse in Thüringen. „Es wird keine Zusammenarbeit oder Koalition mit der AfD geben. Punkt“, sagt Linnemann. So weit will er eigentlich gar nicht denken. Hat die CDU einen Plan B? „Wenn wir jetzt schon an die Niederlage denken, brauchen wir erst gar nicht antreten“, bekräftigt er und bestellt noch Reis. Es ist ein Satz, den derzeit viele Politiker sagen, nicht nur solche von der CDU.
Um für die Wahlen gut aufgestellt zu sein, will das Adenauerhaus die Landesverbände im Osten zumindest stärker als bisher unterstützen. Dafür muss die Zentrale aber kampagnenfähig gemacht werden. Ganz rund läuft es damit noch nicht. Als die CDU im Sommer das neue Logo inklusive Imagefilm vorstellt, ist statt des Bundestages der georgische Präsidentenpalast darauf zu sehen. Später gibt die CDU der Agentur die Schuld.
Erfolg nicht ohne Risiko
Immerhin – im Bund haben sich in den vergangenen Wochen die Umfragewerte verbessert. Die CDU steht bei etwa 32 Prozent. Doch auch im Adenauerhaus weiß man, dass Erfolg nicht ohne Risiko ist. Die CDU werde in erneuter Regierungsverantwortung einen großen Rucksack zu tragen haben, sagt Linnemann dieser Tage immer wieder.
Nach dem Mittagessen beim Asiaten steht noch der Besuch eines integrativen Sportfestes in Paderborn an. Ein Pflichttermin. Jugendliche führen eine Performance auf, die an den Totentanz-Karneval in Südamerika erinnert. Sie haben einen kleinen Grabstein aus Pappe aufgestellt. „Wird hier die CDU beerdigt?“, lacht Linnemann. „Die brauchen wir noch!“ Ganz besonders er.