Köln/Berlin – Die Büchse der Pandora ist geöffnet. 21 Millionen Mal wurde es im Juni verkauft, zehn Millionen Dauerkunden profitierten zusätzlich. Nach dem Run auf das 9-Euro-Ticket nimmt die Debatte über eine Anschlusslösung ab 1. September Fahrt auf.
Der Sozialverband fordert die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets für den öffentlichen Nahverkehr, die Linken schließen sich an, die Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz, Maike Schaefer (Grüne), Senatorin für Mobilität in Bremen, fordert ein neues Angebot ab Herbst, das aus dem Klimaschutzprogramm bezahlt werden soll.
Auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) outet sich als Fan des 9-Euro-Tickets, sein Parteifreund Christian Lindner (FDP) erstickt alle Hoffnungen streng volkswirtschaftlich aber im Keim. „Schritte in Richtung des kostenfreien ÖPNV sind kritisch, weil die Knappheiten dann nicht über den Preis gesteuert werden können“, erklärt der Bundesfinanzminister.
Wie geht es also ab September weiter?
Das ist alles noch völlig offen. Doch die Chancen auf eine Verlängerung stehen schlecht. Wenn Christian Lindner die Schuldenbremse ab 2023 wieder einhalten will, ist ein preiswertes Jahresticket für den ÖPNV nicht zu finanzieren. Überdies mehren sich die kritischen Stimmen in der Verkehrsbranche, dass der Nah- und Regionalverkehr in den Ballungsgebieten dem Ansturm der Fahrgäste auf Dauer nicht gewachsen sei.
Hat das 9-Euro-Ticket in den ersten vier Wochen die Straßen entlastet? Sind mehr Menschen auf Bus und Bahn umgestiegen?
Es gibt Hinweise auf einen positiven Effekt. Eine aktuelle Analyse des Verkehrsdatenspezialisten TomTom zeigt für 23 von 26 untersuchten Städten einen Rückgang des Stauniveaus im Vergleich zur Zeit vor der Einführung. Die Daten „lassen vermuten, dass dieser Rückgang in Zusammenhang mit der Einführung des 9-Euro-Tickets steht“, sagte TomTom-Verkehrsexperte Ralf-Peter Schäfer. „Pendler haben bei der Fahrt mit dem Auto in die Arbeit und nach Hause in fast allen untersuchten Städten im Juni weniger Zeit verloren als noch im Mai.“
Konkret hatten die Experten die Stauniveaus im Berufsverkehr an Werktagen in den Kalenderwochen 20 und 25 in 26 deutschen Städten verglichen. Die Zeiträume wurden so gewählt, um Auswirkungen von Ferien und Feiertagen zu umgehen.
Das Ergebnis ist deutlich: „In den ersten Tagen nach Einführung des 9-Euro-Tickets haben die Daten von TomTom noch kaum Auswirkungen der Maßnahme auf den Autoverkehr gezeigt. Mittlerweile lässt sich jedoch in fast allen untersuchten Städten in Deutschland ein positiver Effekt auf den Verkehrsfluss feststellen“, sagt Schäfer.
Wie stehen die Verkehrsunternehmen zu einer Anschlusslösung ab September?
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sieht die Verkehrsbetriebe in der Zwickmühle. Aus Klimaschutzgründen will sich niemand gegen ein preiswertes Dauerticket stellen, das bundesweite Gültigkeit hat. „Natürlich laufen schon Überlegungen, wie es ab 1. September weitergehen könnte“, sagt VDV-Sprecher Lars Wagner. „Aber all diese Überlegungen hängen letztlich an der Frage, wer die damit verbundenen Mindereinnahmen und die extrem steigenden Kosten der Branche ausgleicht. Und dazu gibt es bislang keine Lösung.“
Der im Koalitionsvertrag der Ampel formulierte Beschluss, die Mittel für den Nahverkehr für das Jahr 2022 zu erhöhen, sei nicht eingehalten worden. So schön das 9-Euro-Ticket sei. Ab Herbst könne man es einfach nicht mehr finanzieren. Im Gegenteil: Sollten die Kostensteigerungen, die auch ohne 9-Euro-Ticket auf die Verkehrsunternehmen zukommen, durch den Bund nicht ausgeglichen werden, „drohen Angebotseinschränkungen im ÖPNV ab Herbst“, so Wagner. Es könnten also weniger Busse und Bahnen fahren.
Was sagt die Interessenvertretung der Fahrgäste?
„Natürlich trifft das Ticket ins Schwarze“, sagt Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbands Pro Bahn. Das liege nicht nur am Preis, sondern vor allem an der einfachen Handhabung. „Man kann in ganz Deutschland fahren, ohne sich Verbundgrenzen oder Tarifgrenzen merken zu müssen.“
Dennoch hält Pro Bahn nichts davon, ab 1. September eine vergleichbare Anschlusslösung zu suchen. Die Schienen-Infrastruktur sei in den vergangenen 20 Jahren kaputtgespart worden, überdies gebe es zu wenig Züge und Personal. „Die Mitarbeiter der Bahnunternehmen klagen schon jetzt über die extreme Arbeitsbelastung“, sagt Neuß.
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„Jetzt zeigen alle auf Österreich und das Umweltticket, das dort sehr gut angenommen wird. Dabei wird aber übersehen, dass die Österreicher vor 20 Jahren mit dem konsequenten Ausbau ihres Schienennetzes begonnen haben. Davon sind wir weit entfernt.“
In Deutschland breche der öffentliche Nahverkehr in den Ballungsgebieten unter der Last des 9-Euro-Tickets immer wieder zusammen. „Auf dem Land haben die Menschen nichts davon, weil es so gut wie kein Schnellbus-Verbindungen gibt und die Bahnhöfe nur schwer zu erreichen sind.“ Die neue Bundesregierung sei den Beweis der Verkehrswende noch schuldig geblieben. „Fakt ist, dass in den Fernstraßenausbau immer noch doppelt so viel Geld gepumpt wird wie in die Schiene.“ Wenn der Bund ein Umweltticket einführe, dürfe das nicht auf Kosten des Infrastrukturausbaus geschehen, der jetzt schon unterfinanziert sei. (mit dpa)