Nettersheim – Wenn die Trümmer beseitigt, die Sperrmüllcontainer verschwunden sind, hast du auf einmal ganz viel Zeit. Zeit zum Nachdenken und Besteck sortieren. Auf einem Holzstuhl in der Spätsommersonne vor dem 150 Jahre alten Bruchstein-Gebäude, das einmal dein Gasthaus war. Andreas Reck (53) hat alles verloren. In der Nacht zum 15. Juli im Dorfkern von Nettersheim, als die Urft immer schneller aus dem Bett stieg, den „Freistaat Eifel“ samt Hofladen flutete und seinen Schwiegervater (67) mit in den Tod riss. Seine Frau (37) konnte sich im letzten Moment auf ein Garagendach retten.
Das Gasthaus ist entkernt, alles sieht aufgeräumt aus. So aufgeräumt, als könnte Recky, wie sie ihn im Dorf nennen, schon am Sonntag den Eifelsteig-Wanderern wieder handgemachte Nettersheimer Knudeln mit Schmorzwiebeln und Blankenheimer Speck servieren. „Ich hatte hier früher alte Stühle, die ich aufgearbeitet habe. Die sind alle weg“, sagt Recky und schiebt die Klappkiste mit dem Besteck beiseite. „Das sind alles Spenden. Das wird meine neue Sammlung.“
Gefahr völlig unterschätzt
Wir könnten stundenlang über die Nacht reden, in der sein Schwiegervater, selbst viele Jahrzehnte in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv, die Katastrophe mit seinem Leben bezahlte. Gemeinsam hätten sie doch nur versucht, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, „Wir haben die Gefahr völlig unterschätzt. Es gab keinen Alarm, keine Sirene, nichts. Es war niemandem klar, was hier gerade passiert. Auch der Feuerwehr nicht.“
Aber von Katastrophengeschichten habe er genug, sagt Recky. Er will nur noch nach vorne schauen. „Schon am Donnerstag stand hier ein Trupp von acht jungen Männern mit Schaufeln und Schubkarren und hat angefangen. Die kamen wohl aus den umliegenden Dörfern.“ Der Schock sei verdaut. „Ich will wieder aufmachen. Ich habe keine andere Wahl.“ Noch im September will er im zerstörten Biergarten ein Popup-Restaurant aufziehen, die Spenden-Bestecke zum Einsatz bringen. „Das ist meine Art, damit umzugehen.“
Reckys Erwartungen an die Politik ein paar Wochen vor der Wahl sind sehr konkreter Natur. Sein Haus gehört der Gemeinde. Es ist eines von 16 öffentlichen Gebäuden, die es böse erwischt hat. So wie das Naturschutzzentrum. „Ich kann erst wieder öffnen, wenn die Gemeinde das Haus saniert hat.“
Einen Schaden von bis zu 24 Millionen Euro könne Nettersheim allein keinesfalls stemmen. Denn auch die Einnahmen fehlen. „Ich zahle keine Miete mehr und habe die Erfahrung von acht Monaten Lockdown hinter mir“, sagt Recky. „Je länger ich durchhalten muss, umso weniger bleibt mir, mein Restaurant wieder aufzubauen.“
Gemeinde reagierte schnell
Die schnelle Reaktion der Gemeinde habe ihn beeindruckt. „Der Bürgermeister ist sofort aus dem Urlaub zurückgekommen, seinen Vorgänger haben sie aus der Rente geholt, der kennt hier jeden und leitet den Krisenstab.“ Doch irgendwann seien die Möglichkeiten der Nettersheimer halt erschöpft. Für den Wiederaufbau müsse es schnelle Hilfe von Bund und Land geben. „Ich kann erst wieder öffnen, wenn das Haus saniert ist. Das muss die Gemeinde stemmen. “
Zwei Dörfer weiter, im Rathaus von Zingsheim, treffen wir auf einen Bürgermeister mit einem klaren Plan. „Wir müssen weiter für die Menschen da sein“, sagt Norbert Crump (47). „Der Ort war schnell wieder sauber, das war wichtig für die Psyche.“ Die neuen Aufgaben seien ungleich schwieriger. „Jetzt setzt sich das Ganze, die Menschen begreifen langsam das Ausmaß der Katastrophe.“ Knapp 400 private Gebäude seien betroffen.
Beim Wiederaufbau des Dorfkerns von Nettersheim werde man einen langen Atem brauchen: „Schätzungsweise zwei Jahre. Und wir müssen intensiv über den Hochwasserschutz diskutieren“, sagt Crump. Der Klimawandel sei da, aber er glaube nicht, dass ein derartiges Hochwasser den Ort so schnell wieder heimsuche. „Wissen kann ich das nicht“, sagt der CDU-Politiker. „Aber ich kann den Menschen doch nicht die Hoffnung nehmen. Wir müssen sie vor dem Normalfall schützen. Davor, dass die Keller nicht gleich wieder volllaufen.“
Bürgermeister vertraut auf Zusagen
Crump vertraut darauf, dass die Hilfszusagen der Bundesregierung auch nach der Wahl noch gelten. „Wir sind eine kommunale Familie, vom Bürgermeister über den Kreis bis zum Land.“ Da sei Verlässlichkeit gegeben. Wenn das auf der Bundesebene auch so klappe, „kann Laschet ruhig Bundeskanzler werden. Oder Scholz. Das mir relativ egal. Die Menschen hier sind mir am Wichtigsten.“
Das könnte Jörg Weitz (45) sofort unterschreiben. Der Gründer des Netzwerks „Eifel für Eifel“, das mit Beginn der Corona-Krise aus der Taufe gehoben wurde und ursprünglich als Plattform für Selbstständige gedacht war, denen die Aufträge weggeplatzt sind, steht im Ortsteil Engelgau auf dem Hof einer Hilfsorganisation. 60 Ehrenamtler haben sich hier innerhalb von sechs Wochen derart professionalisiert, dass sie nun das Flutgebiet in der Eifel und an der Ahr an 31 Punkten mit allem versorgen, was vor Ort fehlt. Wasserkocher und Essen für Bedürftige und Helfer, Vermittlung von Handwerkern oder Hilfen beim Ausfüllen von Anträgen für Soforthilfe.
Mittlerweile zählt das Netzwerk bei Facebook 38.000 Mitglieder. „Das ist eine Reichweite, mit der man gezielt nach Dingen suchen kann, die hier dringend gebraucht werden“, sagt Weitz. „Eifel für Eifel“ baut gemeinsam mit dem Deutschen Roten Kreuz das Logistikzentrum in Zülpich auf. Im November wird eine Gruppe von 25 Malern und Lackierern aus Hamburger Betrieben in die Krisenregion kommen, um die Häuser vor Weihnachten wieder herzurichten. Soweit das schon möglich ist.
Der Staat, sagt Weitz, könne das alles gar nicht organisieren. „Was da draußen gerade passiert, ist der Versuch, einen 3000 Quadratmeter großen Rasen mit der Nagelschere zu schneiden. Wir sind jetzt in der sechsten Woche und trotzdem gibt es Menschen, die in einem Land wie Deutschland immer noch keinen Strom und kein Wasser haben. Das ist keineswegs vorwurfsvoll gemeint, zeigt aber die Dimensionen, vor denen wir stehen.“
Auch Weitz ist fest davon überzeugt, dass man sich auf eine solche Katastrophe nicht vorbereiten kann. „Es hätte vielleicht schneller gewarnt und koordinierter geholfen werden können. Ich will nicht sagen, dass die Information überall gut gelaufen ist, aber das Ergebnis wäre kein anderes gewesen. Selbst wenn man uns vorhergesagt hätte, wir bekommen so ein Hochwasser, die Leute hätten ihre Häuser nicht verlassen.“
Über Wochen in einer Blase gelebt
Mit den politischen Irritationen, einem lachenden NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet bei der Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Erftstadt, oder politischen Debatten, warum die NRW-Umweltministerin nicht mehr rekonstruieren kann, an welchen Tagen sie um welche Uhrzeit mit Laschet am Telefon über das heraufziehende Hochwasser gesprochen hat, habe man sich nicht beschäftigt und werde das auch nicht tun.
„Wir haben in den ersten Wochen in einer Blase gelebt und diese ganzen Dinge gar nicht mitbekommen“, sagt Weitz. Die Facebook-Gruppe von „Eifel für Eifel“ sei keine Plattform für politische Diskussionen. „Wir verbieten keinem die Meinung, doch in unserer Gruppe geht es um Hilfe, und um sonst nichts. Wir wollen nicht hören, die Bürgermeister haben versagt. Es geht nicht darum, dass sie das nicht sagen dürfen. Aber nicht bei uns.“