Europa-Reise: BrüsselDieser Mann hat das bedingungslose Grundeinkommen erfunden
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Unser Autor Jonah Lemm ist vor der Europa-Wahl eine Woche lang durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was uns in Zeiten von wachsender EU-Skepsis und Populismus zusammenhält.
In der ersten Folge der Serie „Wie geht's, Europa?” reist er nach Brüssel und trifft den Mann, der das bedingungslose Grundeinkommen erfunden hat.
Auf die Idee kam Philippe van Parijs – beim Zähneputzen. Und auch sonst ist dieser Belgier, der von Hungerstreik bis Knast schon fast alles erlebt hat, ziemlich erstaunlich.
Brüssel – Wenn Angela Merkel kommt, kann Philippe van Parijs nicht schlafen. Die Helikopter rotieren dann die ganze Nacht über seinem Haus im Brüsseler Europa-Viertel, Personenschutzlärmhölle. Philippe van Parijs wacht dann am nächsten Morgen übermüdet und glücklich auf. „Wer hätte nach zwei Weltkriegen gedacht“, sagt er, „dass sich Europas Regierungschefs regelmäßig treffen und miteinander reden.“ Zivilisierter Dialog, für ihn ja der Kern der EU.
Ich denke noch darüber nach, nicke aber aus Höflichkeit auf Verdacht. Der ICE hat mich erst vor einer Stunde am anderen Ende der Stadt ausgespuckt. Riesenstress! Aber man will ja den Mann, der das Bedingungslose Grundeinkommen erfunden hat, nicht warten lassen.
Philippe van Parijs ist ein vielgefragter Mann, das konnte man schon ahnen, als er in der ersten Mail schrieb, er habe wirklich nur zwei freie Stunden an diesem viel zu warmen Frühlingstag. Van Parijs, Philosoph, ist in Deutschland kaum bekannt, in Belgien aber eine Art Habermas light. Seit dem Oxford-Doktor mit Ende 20 arbeitet er als Professor und Experte für, naja, dies und das.
Heute, sagt er, sei er wieder ein bisschen müde, obwohl Angela Merkel gar nicht da ist. Dafür aber Noah, sein Enkel. Der quengelt jetzt Zweijährigen-Wörterquark durch den Hinterhof-Garten. „Hast du Hunger?“, fragt van Parijs auf Französisch, dann auf Englisch. Keine Chance. Noah antwortet mit bilingualem Schweigen. Van Parijs holt trotzdem einen Erdbeer-Jogurt aus dem Kühlschrank. Vor dem ersten Löffel klingelt das Handy, schon zum dritten Mal in 20 Minuten. Er hebt ab, auf der Rückseite des iphones steht: „Bedingungsloses Grundeinkommen für Jedermann“.
Das mit dem Grundeinkommen ist ja seine Hauptthese. 1982 kam ihm angeblich beim abendlichen Zähneputzen die Idee dazu, als erstem überhaupt. So richtig prüfen kann man das nicht. Aber van Parijs hat seitdem sehr viele Bücher darüber geschrieben, eine weltweite Initiative gegründet und den wichtigsten belgischen Wissenschaftspreis gewonnen. In seiner Küche hängt ein Foto mit einem anderen Philippe. Der ist König der Belgier. Man sei ganz gut befreundet.
Und weil er schon wirklich alles dazu gesagt hat, ist Ziel dieses Besuchs, auf gar keinen Fall mit Philippe van Parijs über das Bedingungslose Grundeinkommen zu sprechen. Stattdessen will man sich von ihm, der gebürtiger Brüsseler ist und dessen Lebenslauf sich wie ein Genie-Baukasten liest, die EU erklären lassen. Vereinbart ist eine gemeinsame Stadtführung. Es wird aber schnell klar: Die Frage bei dieser Tour ist nicht, ob man etwas Nützliches lernen wird. Die Frage ist, ob die Kapazität des eigenen Gehirns für zwei Stunden mit Philippe van Parijs ausreicht.
Eine Spurensuche nach den Grundrechten – die Serie
Was Europa ausmacht? Gemeinsame Gesetze, Handelsbeziehungen, na klar. Aber im Kern sind es die Menschen und die Werte, die uns zusammenhalten. Deshalb haben wir unseren 22 Jahre alten Reporter Jonah Lemm auf eine einwöchige Reise durch einige europäische Mitgliedsstaaten geschickt. Immer auf der Suche nach Menschen, welche den Artikel zwei der Europäischen Verfassung mit Leben füllen. Die Grundwerte, die da sind: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte.
Jonah Lemm ist in Brüssel eingetaucht in das Abenteuer EU, hat das illegale Flüchtlingslager in Calais besucht, einen Abstecher ins Brexit-London gemacht.
Lemm traf in Paris eine junge Französin, deren Europaliebe sie bewog, für Macron Wahlkampf zu machen, in Barcelona einen Katalanen, der jeden Abend auf einem Berg vor einem Gefängnis per Megafon den inhaftierten Separatistenführern eine gute Nacht wünscht. Und Lemm hat sich eine Nacht lang in den Schwulenbars von Prag herumgetrieben – der toleranten Gay-Hauptstadt des Ostens.
Er müsse gleich, nachdem man die Kommission und das Europa-Gebäude, in dem der Europäische Rat und der Rat der EU tagen – bitte nicht verwechseln – und das innen aufgebaut sei wie ein Ei, besichtigt habe, am Europäischen Parlament noch sein Fahrrad abstellen, um dann, nachdem er Noah seiner Tochter übergeben hat, die eigentlich in Jordanien und gerade in Brüssel wohnt, nebenbei gesagt nicht weitentfernt von dem Ort, an dem Karl Marx sein Manifest schrieb, nachher zu einem Meeting und einer Debatte rasen. Ob das ein Problem wäre? Während man noch diesen durchaus exemplarischen Philippe-van-Parijs-Gedanken versucht zu entwirren, drückt der einem schon sein Fahrrad in die Hand. Selbst nimmt er den Kinderwagen. Mitschreiben unmöglich. Eigener Ansporn nun: van Parijs’ Aussagen verstehen, behalten und radikal kürzen.
Haltestelle Schumann
Direkt neben der EU-Kommission haben er und Kollegen auf einem U-Bahn-Wand-Schaubild erklärt, wie die EU nach Brüssel kam. Belgien war nach dem Alphabet der erste Mitgliedsstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Und deswegen beauftragt, auch den ersten provisorischen Hauptsitz zu stellen. Man fand keine passende Immobilie, verjagte ein paar Nonnen, riss ein Kloster ab. Und errichtete das Berlaymont-Gebäude, in dem heute die Europäische Kommission sitzt. Und weil man nun neu gebaut hatte, blieb man eben. Unerwartet pragmatisch, denke ich.
Europäischer Auswärtiger Dienst
Alle Vertreter der Europäischen Sicherheitspolitik, da drin. Aber viel spannender, sagt van Parijs, sei das Café im Erdgeschoss dieser architektonischen Vollverglasung. Dafür hätten sie in einer Nachbarschafts-Initiative gekämpft. Gab’s ja früher nicht, Restaurants in den Institutionen. Und das, obwohl es hier ja wirklich überall Institutionen gibt. Von denen man noch nie gehört hat. Europäischer Ausschuss der Regionen, Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss. Besser schnell weiter, sonst droht die Gefahr, diese transnationale Bürokratie-Zentrifuge in Gänze verstehen zu müssen.
Vertretung des Freistaates Bayern
Hier, sagt van Parijs, habe man den Grund, warum die Union niemals aus Brüssel wegziehen wird: Eine frei stehende Ziegelmauer-Villa, sehr schick, direkt im Park neben dem Parlament. Früher Forschungsinstitut, 2001 von Bayern aufgekauft. „Wer in so ein Haus investiert“, sagt van Parijs, „der zieht nicht mehr weg.“ Gelte für alle Gebäude mit EU-Verbindung. Auch wenn die bei weitem nicht so ansehnlich seien. Im Erdgeschoss der Vertretung des Vereinigten Königreichs gibt’s immerhin eine Apotheke. Ob die allerdings jetzt gerade das passende Rezept und so – unsicher.
Europäisches Parlament
Noah ist eingeschlafen, auf der Treppe zum Parlament. Kurz ist man versucht, zu googlen, wie weit die Sozialisation eines Zweijährigen fortgeschritten sein kann – lässt es aber.Herr van Parijs, haben sie Angst um die EU, jetzt, wo Mattheo Salvini eine Populisten-Allianz zur stärksten Kraft machen will?„Ich freue mich darüber“, sagt van Parijs.Bitte was?
„Naja, ich sehe das so: Diese Leute leben davon, immerzu zu schreien »Mein Land zuerst«. Diese – nennen wir es mal – »Taktik« funktioniert aber nicht, wenn man plötzlich mit anderen zusammenarbeiten muss. Ich bin sehr gespannt, wie Ungarn und Italien versuchen, Kompromisse zu finden.“
Brüsseler Börse
Ein Mal musste Philippe van Parijs in den Knast. Damals, als Präsident des Studentenkomitees, mit 19, hatte er zu einem Hungerstreik aufgerufen. Hierfür aber – sein Finger fährt jetzt eine Allee entlang – wäre er auch mit 62 noch einmal ins Gefängnis gegangen.
2012 wollte die Stadt einen Straßenring um das gesamte Zentrum von Brüssel ziehen. Van Parijs veröffentlichte daraufhin einen Text. Überschrift: „Picnic The Streets!“ Alle Bürger, forderte er, sollten ihn an einem Sonntag zum Mittagessen begleiten. Auf den Boulevard Anspach, einer der wichtigsten Verkehrsachsen Brüssels.
Zwei Wochen später kamen Hunderte mit Essenskörben und Decken. Der Bürgermeister rief van Parijs zu sich ins Büro. Er könne seinen kleinen Protest gern fortführen. Bringe nur nichts. Drei Jahre und einen Bürgermeister später wurde der Boulevard Anspach und einige umliegende Straßen zur zweitgrößten Fußgänger-Zone Europas erklärt.
Van Parijs muss jetzt wirklich los, zur Debatte, man erinnert sich. Bis er stirbt, sagt er noch, werde er über das Bedingungslose Grundeinkommen nachdenken. Im Sterben dann aber nur über den Boulevard Anspach.