Nach der bundesweiten Razzia zur Vereitelung eines Staatsstreiches stellt sich die Frage: Hat Deutschland ein Rechtsextremismus-Problem? Experte Peter Anhalt über Radikalisierung, Corona-Proteste – und „beunruhigende“ Beobachtungen.
Extremismusforscher warnt„Der Rechtsextremismus ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen“
Bei einer Großrazzia gegen eine mutmaßliche Terrorgruppierung in der „Reichsbürger“-Szene sind am Mittwoch 25 Personen festgenommen worden. Sie sollen einen gewaltsamen Sturz des politischen Systems in Deutschland geplant haben. Es drängt sich einmal mehr die Frage auf: Wie konnte es so weit kommen? Darüber hat das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit dem Experten Peter Anhalt gesprochen. Er ist Leiter des Fachbereichs Rechtsextremismus beim Violence Prevention Network. Der Verbund engagiert sich seit Jahren in der Prävention von Extremismus sowie der Deradikalisierung und arbeitet dabei mit Gefährdeten sowie Radikalisierten unter anderem im Bereich Rechtsextremismus.
Herr Anhalt, die festgenommenen „Reichsbürger“ planten den Umsturz in Deutschland. Was sind typische Anzeichen für eine rechtsextreme Radikalisierung?
Peter Anhalt: Deutliche Merkmale für eine Person, die sich radikalisiert, zeigen sich etwa in einem zurückziehenden Verhalten und in verstärkten diskriminierenden, antisemitischen und rassistischen Äußerungen. Oft geht das einher mit Gewaltfantasien, Gewaltumsetzung und einer Entwertung der demokratischen Gesellschaft. Dass Menschen abdriften, merkt man auch daran, dass sie für andere nicht mehr zu erreichen sind. Entweder sie versuchen, mit einem zu diskutieren, interessieren sich aber nicht für die andere Meinung, sondern sie wollen mit ihren Ansichten überzeugen. Einige ziehen sich auch zurück und lehnen jede Diskussion ab. Viele sympathisieren mit Verschwörungsideologien.
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Hat sich das Problem Rechtsextremismus durch die Corona-Proteste verstärkt?
Bei den Corona-Protesten gab es starke Tendenzen zur Delegitimierung des Staates. Das sind nicht per se rechtsorientierte Menschen gewesen. Aber es gab immer mehr Schnittmengen und auch Verbindungen zwischen den Gruppen. Deshalb wurden die Corona-Demos auch von Rechten unterwandert und zielgerichtet benutzt, um Menschen von ihrem Denken zu überzeugen. Das passiert jetzt auch bei den Protesten wegen der aktuellen Wirtschaftskrise durch Russlands Krieg in der Ukraine. Auch hier gibt es eine Vermischung, die gefährlich ist.
Wenn Sie auf die festgenommenen „Reichsbürger“ schauen: Ist Rechtsextremismus ein Problem bestimmter gesellschaftlicher Milieus?
Nein, das betrifft alle gesellschaftlichen Schichten. Die bundesweite Razzia hat gezeigt, dass Rechtsextremismus auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Hintergründe der Verdächtigen zeigen, dass da auch Geld, Macht und Einfluss hinter stehen. Das ist etwas anderes, als wenn sich jemand in der Nachbarschaft radikalisiert. Hier geht es konkret um Menschen, die Zugang zu Waffen und Institutionen wie dem Bundestag haben und Attentate planen. Das hat für mich noch mal eine ganz neue Brisanz, weil es in fast vollendeter Form demokratiegefährdende und staatsgefährdende Handlungen zeigt.
Durchlaufen die Menschen den Radikalisierungsprozess in verschiedenen Stufen?
Nein, das ist mehr ein fließender Prozess. Aus meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen aus dem Strafvollzug stecken zu 90 Prozent eigene Erfahrungen mit Diskriminierung, Gewalt, Ausgrenzung und bestimmte Gewaltneigungen dahinter. Das ist bei den Menschen, die jetzt hinter diesem Umsturzversuch stehen, anders. Das sind alles Menschen, die offenbar relativ normale Hintergründe haben und sich dann radikalisieren. Dies zeigt wieder, dass es einen Teil in der Gesellschaft gibt – das ist ja auch statistisch belegt –, die von vornherein reaktionär und autoritär geformt sind. Das ist noch einmal eine ganz andere Dynamik als beim typischen rechtsextremen Straftäter – und das macht es aus meiner Sicht noch mal beunruhigender.
Zu den Verdächtigen im jetzigen Fall zählen auch Kräfte der Polizei und Bundeswehr, die versucht haben sollen, Kollegen zu rekrutieren. Passiert so was im Verborgenen, oder fällt das auf?
Das ist ganz klar: Es muss zumindest anderen Kolleginnen und Kollegen und besonders den Vorgesetzten auffallen. Da habe ich den Eindruck, dass es sowohl in der Bundeswehr als auch bei der Polizei immer noch zu wenig Wissen und Sensibilität gibt, wie viele Spielarten es beim rechtsextremen Denken gibt. Da sie sich teilweise vernetzen, kennen sie sich auch untereinander. Deswegen ist es nicht so, dass sie völlig im Verborgenen arbeiten. Die Erkenntnisse der Razzia zeigen, dass man nicht mehr von Einzelfällen sprechen darf. Es gibt ganz offensichtlich ein strukturelles Problem. Es gibt offenbar viele Rechtsextremisten, die sich zu Polizei und Bundeswehr hingezogen fühlen, weil es dort bestimmte autoritäre Strukturen gibt.
Kann man abschätzen, wie groß die Schwelle bei diesen Menschen zur Gewalt ist?
Das unterscheidet sich ganz individuell. Es gibt die Menschen, die Gewalt ausüben, weil sie eine gewisse Gewaltneigung haben. Die Neigung lässt sich gut mit rechtsextremem Denken verbinden, weil es die Gewalt am Ende rechtfertigt. Daneben gibt es aber auch Menschen – die ich für gefährlicher halte –, die eine sehr gewaltvolle Sprache und gewaltvolle Bilder verwenden, um damit Anhängerinnen und Anhänger aufzustacheln. In dem jetzigen Fall scheint es so, dass sich beides miteinander verbunden hat. Also dass Menschen, die scheinbar kaum etwas mit Gewalt zu tun hatten, sich so weit radikalisiert haben, dass sie bereit waren, zur Tat zu schreiten und massive Gewalt auszuüben.
Lassen sich diese Personen „zurückholen“, oder sind sie „für immer verloren“?
Ich würde niemanden verloren geben. Aber wir müssen jeden Fall individuell betrachten. Die Radikalisierung bei Jugendlichen hängt oft mit familiären Problemen und den Eltern zusammen. In einem solchen Fall können junge Erwachsene durch externe Hilfe wieder auf die richtige Bahn zurückgeholt werden. Bei Erwachsenen ist das viel schwieriger. Besonders, wenn sich rechtsextreme Einstellungen mit verschwörungsideologischem Denken verbindet, sind diese Personen oft auch nicht mehr von Familie oder Freunden zu erreichen. Diese Personen haben dann eine Art Missionsdrang und wollen ihre Weltsicht verbreiten. Da hilft es meist nur, sich zu distanzieren und zu sagen, dass man die Welt anders sieht und unter den Ansichten der Person leidet.