Gastbeitrag des Düsseldorfer OB„Wie geht es uns jetzt mit den ganzen Lockerungen?“
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Auch wenn das Coronavirus seit Wochen das öffentliche Leben dominiert, wissen wir nach wie vor sehr wenig darüber.
Je nachdem wie hoch die Dunkelziffer nicht entdeckter Infektionen ausfällt, stellt sich die ausgegebene Höchstgrenze von Neuinfektionen als mehr oder weniger willkürlicher dar.
Repräsentative Studien in Düsseldorf sollen nun Aufschluss über ein Umsteuern in der Pandemie-Bekämpfung bringen.
Ein Gastbeitrag von Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel.
Düsseldorf – So, wie geht es uns jetzt mit den ganzen Lockerungen? Am Mittwoch lag der Reproduktionsfaktor der Corona-Neuinfektionen zwar bei beruhigenden 0,81. Nur wenige Tage zuvor aber war er erstmals seit Wochen wieder über den kritischen Wert 1 gestiegen. Nicht wenigen Städten und Landkreisen droht, dass sich innerhalb einer Woche mehr als 50 Personen pro 100.000 Einwohner anstecken. Dann aber, so hat es die gestrenge Kanzlerin angekündigt, werde sogleich wieder Schluss sein mit locker; dann müsse das öffentliche Leben wieder heruntergefahren werden. Um das zu vermeiden, bietet sich ein scheinbar bequemer Ausweg an: Einfach weniger testen! Denn unentdeckte Infektionen bleiben bei den Berechnungen natürlich außen vor. Und je nachdem, wie hoch die Dunkelziffer nicht entdeckter Corona-Infektionen ist, stellt sich die von der Kanzlerin ausgegebene Höchstgrenze von Neuinfektionen als mehr oder weniger willkürlich dar.
Erstaunlich ist ja ohnehin, dass wir von dem Virus, das seit Wochen das öffentliche Leben dominiert, nach wie vor so wenig wissen. Immerhin deutet die Studie des Bonner Virologe Hendrik Streeck am ersten nordrhein-westfälischen „Hotspot“ Heinsberg auf eine sehr hohe Dunkelziffer hin. Will heißen: Es haben sich viele Menschen infiziert, die nie getestet wurden und deshalb auch nie in einer offiziellen Corona-Statistik aufgetaucht sind.
Genauere Rückschlüsse auf die Dunkelziffer wird eine Studie geben, die in den kommenden Wochen in Düsseldorf durchgeführt werden soll. 1000 repräsentativ ausgewählte Personen sollen darauf getestet werden, ob bei ihnen das Coronavirus oder Antikörper nachweisbar sind; ob die Testpersonen also aktuell infiziert oder – nach überstandener Covid-19-Erkrankung – bereits gegen das Virus immun sind. Angenommen, diese Studie würde für Düsseldorf bestätigen, dass auch hier die Dunkelziffer unerkannter Infektionen hoch ist, ließen sich hieraus weitreichende Schlüsse ziehen.
Erstens wäre das Ergebnis ein Indiz dafür, dass das Virus nicht so bedrohlich ist, wie vielfach befürchtet wird und wie es der „Lockdown“ des öffentlichen Lebens impliziert. Denn unerkannte sind häufig eben auch unbemerkte Infektionen, die so harmlos abgelaufen sind, dass die Erkrankten gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, sich auf Corona testen zu lassen.
Zweitens müsste man sich dann fragen, ob die Rückverfolgung von Infektionsketten und Quarantäne wirklich Sinn ergeben. Denn tatsächlich würde es sich ja – je nach Höhe der Dunkelziffer – mehr oder weniger um „Zufallsfunde“ handeln, so dass man sich sehr schnell in der Vergeblichkeitsfalle befindet, in der Aufwand und Nutzen einer Quarantäne in keinem sinnvollen Verhältnis mehr stehen.
Drittens sollte man in diesem Fall vielleicht noch einmal neu über die „Herdenimmunisierung“ nachdenken und über die Frage, ob es nicht doch besser wäre, „mit dem Virus leben zu lernen“, als auf einen wirksamen Impfstoff zu warten.
Virus diskriminiert in der Gefährlichkeit nach Alter und Vorerkrankungen
Bei aller Ungewissheit scheint mittlerweile doch eines festzustehen: Das Coronavirus diskriminiert im Hinblick auf seine Gefährlichkeit nach Alter und Vorerkrankungen. So kam in Hamburg eine – erstaunlicherweise gegen die Empfehlung des Robert-Koch-Instituts vorgenommene – Obduktion verstorbener Covid-19-Patienten zum Ergebnis, dass alle Untersuchten mindestens eine erhebliche Vorerkrankung aufwiesen. Für Kinder und Jugendliche ist das Virus hingegen in aller Regel ungefährlich.
Insofern erstaunt es, dass im Zuge der Lockerungen Geschäfte und Restaurants geöffnet werden dürfen, ein regulärer Kita- und Schulbetrieb aber erst wieder nach den Sommerferien einsetzen soll. Als Begründung wird angegeben, Kinder und Jugendliche hätten vom Virus zwar selbst nichts zu befürchten, könnten aber andere anstecken, insbesondere aus den sogenannten Risikogruppen. Die bereits erwähnte Heinsberg-Studie freilich gibt Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche tatsächlich keine sonderlich geeigneten Viren-Überträger sind.
Angst und Verunsicherung im öffentlichen Leben
Diese Frage soll nun – ebenfalls in Düsseldorf – näher untersucht werden. Sollten sich die Anhaltspunkte der Heinsberg-Studie bestätigen, wird die Kritik, dass wir monatelang Kitas und Schulen zugemacht haben, noch weiter zunehmen. Tatsächlich musste man sich von Anfang an fragen, weshalb wir uns nicht darauf konzentriert haben, Risikogruppen gezielt und effektiv zu schützen, statt Kinder und Jugendliche hierfür gewissermaßen zu „instrumentalisieren“. Mit dem Argument „Altersdiskriminierung“ wurde eine gesellschaftliche Diskussion über den Schutz gerade der Senioren bislang verhindert. Es wird Zeit, dass wir uns dieser Frage endlich stellen.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass seit Beginn der Corona-Krise in Deutschland Angst und Verunsicherung das öffentliche Leben bestimmen. Politiker, die sich – je nachdem, was die Meinungsumfragen gerade favorisieren – mal als Hardliner, mal als „Lockerer“ gegenseitig überbieten, haben dazu nicht unmaßgeblich beigetragen. Mit professionellem Krisenmanagement hat das nichts zu tun.
Nehmen wir uns stattdessen ein Beispiel an Immanuel Kant, der uns vor mehr als 200 Jahren den Weg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gewiesen hat. Denn nichts immunisiert uns besser gegen Angst und Verunsicherung als Wissen und Erkenntnis. Also: Bedienen wir uns unseres Verstands! Sapere aude!