Die Grünen werden von allen Seiten unter Beschuss genommen. Die Flüchtlingspolitik stellt die Partei vor eine Zerreißprobe. Ein Interview.
Grünen-Chefin Ricarda Lang„Wir sind der Aufräumtrupp für die Versäumnisse der letzten Jahre“
Frau Lang, die Grünen stehen unter Druck wie lange nicht mehr. Sie sollen in der Flüchtlingspolitik nachgeben, sind beim Klimaschutz in der Defensive, und die Union will, dass Olaf Scholz Sie vor die Tür setzt. Ziehen Sie sich da manchmal morgens die Bettdecke über den Kopf?
Nein, ich bin nicht der Typ, der sich wegduckt. Und meine Partei zum Glück auch nicht. Wir stehen gerade im Zentrum der politischen Debatten. Das ist keine Rolle, vor der wir uns verstecken. Denn wir wollen aus dieser Rolle heraus Orientierung geben für die Gesellschaft. Und wir bringen viel voran. So wie jetzt gerade Robert Habeck, der mit der Industriestrategie die Leitplanken für den Industriestandort Deutschland setzt.
Aber stehen die Grünen nicht in Wahrheit wieder am Rand?
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Nein. Man versucht, uns wieder an den Rand zu drängen. Aber die Nische ist nicht unser Platz.
Heikel ist vor allem die Flüchtlingspolitik, weil sie für die Grünen identitätsstiftend ist. Wo ist denn in Sachen Abschottung die Grenze erreicht, an der Sie sagen: Jetzt reicht‘s?
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe in Deutschland und Europa, Menschen, die vor Krieg oder Terror fliehen, Schutz zu bieten. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, unsere Kommunen bei der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten deutlich stärker zu unterstützen als bislang. Humanität braucht geordnete Verfahren. Umgekehrt besteht auch bei geordneten Verfahren der humanitäre Anspruch fort, dem wir uns mit dem Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention verschrieben haben. Beides nicht gegeneinander auszuspielen: Darauf kommt es nun an.
Was heißt das konkret?
Dass es pragmatische Lösungen braucht, die vor Ort wirken: Die eine Milliarde Euro mehr, die die Kommunen für die Versorgung der Flüchtlinge vom Bund bekommen sollen, reicht nicht, um langfristig planen zu können. Bei der Aufhebung von Arbeitsverboten sind wir jetzt erste Schritte gegangen. Das ist gut. Viele Menschen, allen voran die vielen Unternehmer, die händeringend Arbeits- und Fachkräfte suchen, haben kein Verständnis dafür, dass Flüchtlinge arbeiten können, arbeiten wollen, es bisher aber nicht dürfen.
Das Gesetz über erleichterte Abschiebungen hat soeben das Kabinett passiert. Doch manche Grüne zweifeln, ob es überhaupt dem Grundgesetz entspricht. Werden die Grünen trotzdem zustimmen?
Wir leben in einem Rechtsstaat. Das bedeutet: Wer Schutz braucht, der muss Schutz bekommen. Wer ausreisen muss, der muss ausreisen. Der beste Weg, damit das gelingt, sind die Migrationsabkommen. Das Gesetz zu den erleichterten Abschiebungen werden wir uns im Bundestag anschauen und dabei natürlich einen besonderen Fokus auf verfassungsrechtliche Fragen richten, übrigens auch auf den Schutz von Kindern und Familien. Insgesamt rächt sich jetzt, dass ab 2015 viele Strukturen für Geflüchtete aufgebaut und später wieder abgebaut wurden. Dadurch haben wir es versäumt, vorzusorgen. Der Ursprung der Herausforderungen liegt genau da: Wir haben zu wenig bezahlbaren Wohnraum, jedes Jahr fallen Wohnungen aus der Sozialbindung, wir haben zu wenig in unser Gesundheitssystem und in Kita-Plätze investiert. Wir müssen jetzt im großen Stil soziale Infrastruktur ausbauen.
Das Ja der Grünen zum Abschiebegesetz ist also noch nicht garantiert?
Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingegangen ist. Aber am Ende werden wir in der Regierung eine gemeinsame Lösung finden. Es geht nicht darum, möglichst hart zu klingen, sondern um rechtssichere Lösungen, die am Ende wirklich helfen.
Unterdessen wird angesichts der Lage längst über eine andere Regierung spekuliert, eine neue Große Koalition oder eine Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP. Hält die Ampel bis 2025? Oder wäre es nicht sogar besser, vorzeitig Schluss zu machen?
Die Ampel bringt das Land voran – und sie hält. Was eine Große Koalition angeht: An ganz vielen Stellen sind wir immer noch der Aufräumtrupp für die Versäumnisse der letzten Jahre.
Fest steht, dass der rechte Flügel des Parteienspektrums immer stärker wird. Zur AfD könnten sich 2025 auch noch eine Sahra-Wagenknecht-Partei und die Freien Wähler gesellen. Wollen Sie dennoch erneut einen Kanzlerkandidaten aufstellen?
Ich verfalle nicht zwei Jahre vor der Bundestagswahl in solche Spekulationen. Insgesamt erlebe ich eine große Verunsicherung im Land, der müssen wir begegnen. Wenn ich mir die gegenwärtigen Ängste der Deutschen anschaue, dann stehen die steigenden Lebenshaltungskosten und Mieten weit oben. Gleichzeitig wurden in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, Gerechtigkeitsfragen immer wieder beiseite geschoben – und damit Millionen Familien und Lebensrealitäten. Wenn Menschen das Gefühl haben, sie würden nicht gehört, führt das zu Vertrauensverlust in die Politik. Wir brauchen ein neues Gerechtigkeitsversprechen. Auch deswegen bleibt es unser Anspruch, Führung zu übernehmen in diesem Land.
Im Europawahlprogramm wollen Sie auf die Krise mit der Losung reagieren, dass es gelte, den Wohlstand in Deutschland zu verteidigen. Ist das nicht ein bisschen spießig, wenn man sich die postmaterialistische Geschichte der Grünen anguckt?
Ich finde nichts daran spießig, dafür zu sorgen, dass Menschen gut leben können. Dass sie eine sichere Lebensgrundlage haben. Dass unser Land eine klimaneutrale und international wettbewerbsfähige Wirtschaft hat, mit guten Jobs und einer sicheren Infrastruktur. Ich verstehe aber, wenn manche mit dem Wohlstandsbegriff erstmal hadern. Denn unser Wohlstand hat sowohl sozial als auch klimapolitisch eine gewisse Schlagseite. Deswegen gilt es, ihn zu verändern, ihn resilienter, unabhängiger und gerechter zu machen. Ich will, dass die vielen, die den Wohlstand erarbeiten, teil daran haben.
Wohlstand klingt dennoch eher nach Union. Es klingt wie ein weiterer Schritt der Anpassung.
Die Union war zuweilen wohl eher ein Wohlstandsrisiko, etwa bei der Energiepolitik oder beim fehlenden Klimaschutz. Sie hat uns geopolitisch abhängig gemacht von Autokratien, nicht zuletzt von russischer Energie. Aber lassen Sie mich noch etwas anderes loswerden.
Nämlich?
Ich habe im Sommer einen Briefwechsel zwischen Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky von 1972 gelesen. Dabei schreibt Brandt, dass wir auch in Zukunft Wachstum bräuchten, um Gerechtigkeit zu schaffen. Aber allein der Fokus auf das Bruttoinlandsprodukt sei viel zu kurz gegriffen, man bräuchte darüber hinaus Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Ich finde es spannend, dass diese Gedanken schon vor 51 Jahren in der Sozialdemokratie vorhanden waren. Jetzt werden sie von uns Grünen in die Realität umgesetzt.
Ein letztes Thema: Israel. Haben Sie eine Idee, wie der Konflikt zu lösen ist?
Das wäre vermessen. Für uns ist klar: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Ich hatte in der letzten Woche ein Treffen mit den Angehörigen einiger Geiseln. Diese Schicksale sind unfassbar bedrückend. So viele Menschen leiden unter dem Hamas-Terror, der dem jüdischen Staat und seinen Bewohnern gilt. Entsprechend ist es richtig, dass sich Israel im Rahmen des Völkerrechts dagegen verteidigt, es hat das verbriefte Recht dazu. Eine Lehre aus dem Nationalsozialismus ist auch, dass es einen Ort geben muss, an dem Juden sicher leben können. Das schließt nicht aus, die palästinensische Bevölkerung humanitär zu unterstützen. Die Hamas kämpft ja nicht für die Menschen, im Gegenteil. Sie nutzt die Einwohner des Gaza-Streifens als menschliche Schutzschilde und opfert sie.
Stimmen Sie denn UN-Generalsekretär António Guterres zu, der gesagt hat, die aktuelle Auseinandersetzung finde nicht in einem luftleeren Raum statt?
Das gilt für jeden Konflikt, kann aber niemals die Rechtfertigung für Terror sein. Die Hamas kämpft gegen jüdisches Leben und für den Tod. Für so etwas kann es keine Rechtfertigung geben. Wir stehen klar an der Seite Israels.
Sind Sie für eine Bodenoffensive?
Darüber wird in Israel entschieden.
Der Konflikt pflanzt sich unterdessen in Deutschland fort. Wir haben eine weitere Polarisierung, diesmal in Verteidiger und Gegner Israels.
Wenn Menschen den Mord an Juden feiern und gegen das Existenzrecht Israels polemisieren, muss es eine harte Reaktion unseres Rechtsstaates geben, der dazu auch die Mittel hat. Wir können das niemals akzeptieren. Dass solche Vorfälle passieren, zeigt uns aber, dass wir hier mitten in Deutschland ein Problem mit Antisemitismus haben – übrigens in allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus. Das lässt sich nicht wegschieben. Wer antisemitische Einstellungen reduziert auf die Zugehörigkeit zu einzelnen Religionen oder Gruppen, macht es sich zu leicht. Wir müssen in der gesamten Gesellschaft im Bereich von Integration und Prävention vorankommen, unter anderem an den Schulen.