AboAbonnieren

Flutkatastrophe an der AhrBrisante E-Mail warnte früh vor „dramatischen Auswirkungen“

Lesezeit 4 Minuten
Flutnacht Ahr

Das Standbild aus einem Video der Polizeihubschrauberstaffel zeigt überschwemmte Häuser im Ahrtal. 

Mainz – Die Kritik am Krisenmanagement der Flutkatastrophe der rheinland-pfälzischen Landesregierung spitzt sich zu. So liegt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ und anderen Medien eine brisante E-Mail aus der Flutnacht des 14. auf den 15. Juli 2021 an das Lagezentrum des Innenministeriums (IM) vor. Es handelt sich um den Einsatzbericht mit der Kennziffer 16037 einer Crew der Polizeihubschrauberstaffel Winningen. In der Betreffzeile geht es um die Aufklärung der Hochwasserlage im Ahrtal.

Einsatzbericht HubschrauberNeu1

Der Einsatzbericht der Hubschrauberstaffel

Das IM-Lagezentrum hatte die Helikopter am Abend des 14. Juli losgeschickt, um Videos zu drehen. Die Luftaufnahmen sollten ein Bild von der Lage vor Ort liefern. Denn bis dahin hatte die Landesregierung die Hilfsmaßnahmen den lokalen Rettungskräften überlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt herrschte dort die Annahme vor, die Starkregenfront würde keine extremen Ausmaße annehmen.

Ein fataler Irrtum. Mehr als 130 Menschen starben bei der Flutkatastrophe.

Ahrtal: „Häuser unter Wasser bis zum Dach“

Gegen 22 Uhr trafen die Polizeihubschrauber im Krisengebiet ein. Eine Stunde und 19 Minuten flogen die Beobachter den 85 Kilometer langen Fluss von der Mündung bis zum Eifelort Schuld ab, fertigten Fotos und filmten oft verstörende Szenen. In dem knappen Schreiben an das Innenministerium konstatierte ein Pilot: „Zusammenfassend kann man sagen, dass das Hochwasser dramatische Auswirkungen hat.“

Lewentz

Der Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz Roger Lewentz (SPD). Die Opposition im Mainzer Landtag hat für Mittwoch eine Sondersitzung anberaumt

Auf 30 Kilometern Entfernung stünden den Angaben zufolge zwischen der „Ortslage Dernau bis zu Ortslage Schuld in fast allen Gemeinden entlang der Ahr zahlreiche Häuser bis zum Dach unter Wasser.“ Viele Bewohner könnten nur mit Taschenlampen SOS-Signale abgeben, da der Strom ausgefallen sei. Auch sei es wegen der starken Strömung den örtlichen Feuerwehren nicht möglich gewesen, die betroffenen Häuser mit Rettungsbooten anzusteuern. Schon in der Dachzeile steht ein Fazit: „Es ist mit Personenschäden und enormen Sachschäden zu rechnen.“

Hochwasser-Katastrophe in Rheinland-Pfalz: Landesweite Warnung blieb aus

Die Mail lief um 0.53 Uhr beim IM-Lagezentrum ein. Dieses Beweismittel steht im Widerspruch zur Aussage von Innenminister Roger Lewentz (SPD), dass er bis zum Morgen nach der Katastrophe über kein belastbares Lagebild zur Flutwelle verfügte. Insofern habe er auch keinen Krisenstab einrichten und die landesweite Einsatzleitung übernehmen können. Das Ausmaß sei in der Flutnacht nicht absehbar gewesen, hieß es. Der Einsatzbericht belegt das Gegenteil.

Auch telefonische Warnmeldungen an das IM-Lagezentrum zwei Stunden vor der Übermittlung der Nachricht sprechen gegen Lewentz. Er ging um zwei Uhr ins Bett; eine landesweite Warnung blieb aus.

Derweil rauschten die Wassermassen die Ahr hinunter. In der Nacht erreichten die Ströme die mittlere und untere Ahr. 69 Menschen starben in Ahrweiler/Bad Neuenahr. Gegen drei Uhr traten die Fluten mit enormer Wucht an der Flussmündung in Sinzig über die Ufer. In der Behinderteneinrichtung Lebenshilfehaus ertranken zwölf Menschen.

Hubschrauber-Einsatz an der Ahr: Bericht taucht erst ein Jahr später auf

Der Einsatzbericht des Hubschrauberpiloten tauchte erst gut ein Jahr nach dem Start des parlamentarischen Ausschusses im Mainzer Landtag zur Flutkatastrophe auf. Ähnlich wie bei den Videos der Einsatzstaffel aus der Flutnacht hatte es das Innenministerium nebst den unterstellten Polizeistellen lange Zeit versäumt, das kompromittierende Material den Abgeordneten zur Verfügung zu stellen. Allerdings betonte man noch am Sonntag, dass Innenminister Lewentz in der Flutnacht weder die Videos noch den Einsatzbericht von seinem Lagezentrum bekommen habe.

Das könnte Sie auch interessieren:

Fraglich bleibt, warum Lewentz der Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) kurz nach Eingang des Polizeireports um 0.53 Uhr im Lagezentrum folgende Zeilen textete: „Liebe Malu, die Lage eskaliert.“ In Schuld seien sechs Häuser eingestürzt. „Es kann Tote geben/gegeben haben. Unsere Hubschrauber flogen drüber, bekamen Lichtzeichen mit Taschenlampen, konnten aber nicht runtergehen.“ Der ADD (Aufsichtsdirektion des Landes, Anm. d. Red.) sei es nicht möglich, ein zusammenhängendes Lagebild zu erstellen, „da die Wehren überall vor Ort verzweifelt im Einsatz sind, aber nicht nach oben melden. An manchen Stellen ist wohl auch die Kommunikation gestört.“ Im Eifelkreis und in der Vulkaneifel werde die Situation immer schlimmer. „Wir bauen in den Polizeipräsidien Trier und Koblenz Führungsstrukturen auf, um die Lage teilweise führen zu können.“ Die Lage sei derzeit sehr unübersichtlich. Bis gegen neun Uhr am Morgen des 15. Juli geschah dann aber nichts mehr.

CDU spricht von einem „ungeheuerlichen Skandal“

Nach dem Auftauchen der ominösen Flutvideos und des Einsatzreports der Polizei hat die Opposition für Mittwoch eine Sondersitzung des Landtags anberaumt. „Dass dem Untersuchungsausschuss neben den Videos auch der Einsatzbericht der Polizeihubschrauberstaffel bis vor gut zwei Wochen nicht vorlag, ist ein ungeheuerlicher Skandal“, sagte CDU-Ausschuss-Obmann Dirk Herber. „Die Videos und der schriftliche Einsatzbericht haben eine hohe Relevanz für die Aufklärungsarbeit. Bis zum September waren dem Untersuchungsausschuss weder der Aufklärungsflug noch der Bericht bekannt.“

Herber forderte die Landesregierung auf, „lückenlos darzulegen, warum ausgerechnet diese einzelne E-Mail mit dem Einsatzbericht in den Akten des Lagezentrums bis zum 19. September nicht enthalten war.“ Zugleich stelle sich die Frage, so Herber, ob dem Untersuchungsausschuss weitere Akten bis heute vorenthalten würden.