Der SPD-Vorsitzende spricht im Interview über Bürgergeld, ein Versäumnis der Ampelregierung und die Ziele seiner Partei bei den anstehenden Wahlen.
„Der Staat muss hart reagieren“Lars Klingbeil räumt Fehler ein – und setzt auf Sieg bei Bundestagswahl
Den Bundestagswahlkampf 2021 hatte Lars Klingbeil als Generalsekretär für die SPD gemanagt. Die damalige Kampagne war eine maßgebliche Voraussetzung dafür, dass Olaf Scholz Überraschungssieger wurde. Heute ist die Situation komplett anders. Die Menschen kennen Scholz nun als Bundeskanzler einer Ampelkoalition, die an den Herausforderungen zerbrochen ist. Parteichef Klingbeil räumt Fehler ein – und setzt zugleich wieder auf Sieg.
Herr Klingbeil, Sie sagen, die SPD sei eine Partei des Schlussspurts. Um im Bild zu bleiben: Die Union ist immer noch doppelt so schnell wie die SPD, und die AfD liegt an Position zwei. Verlaufen Sie sich gerade?
Lars Klingbeil: Die Bürgerinnen und Bürger fangen jetzt erst an, sich mit dieser Bundestagswahl zu beschäftigen. Viele sind noch nicht entschieden, wo sie ihr Kreuz machen werden. In den nächsten Wochen wird Bewegung entstehen.
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Sie und Ihre Co-Vorsitzende Saskia Esken hatten die parteiinterne Debatte über eine Kanzlerkandidatur von Boris Pistorius lange laufen lassen. Rechnen Sie mit einer Versöhnung seiner Anhänger auf dem Parteitag am Samstag?
Ich erlebe in diesen Tagen eine sehr motivierte SPD, die gemeinsam alles dafür gibt, dass Olaf Scholz Bundeskanzler bleibt. Die SPD kann kämpfen, und das wird sie zeigen.
Müssen Sie nicht eine böse Überraschung einkalkulieren, wonach das tatsächliche Duell gar nicht Friedrich Merz gegen Olaf Scholz lauten wird, sondern Friedrich Merz gegen Alice Weidel?
Das Duell findet zwischen denjenigen statt, die einen Anspruch und eine realistische Chance auf das Kanzleramt haben. Das sind die SPD mit Olaf Scholz und die Union mit Friedrich Merz.
Machen Ihnen die hohen Umfragewerte der AfD keine Sorgen? Sie liegt vor der SPD.
Doch, das treibt mich um. Es ist die große Aufgabe aller demokratischen Kräfte, die AfD mit vernünftiger Politik kleinzukriegen. Deswegen darf die nächste Regierung sich nicht im Klein-Klein verlieren, sondern muss die großen Dinge angehen.
Was sind die großen Dinge?
Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherheit, Entlastung für Familien, unsere Sicherheit. Die Fleißigen müssen mehr Geld in der Tasche haben. Wir können durch eine gute Politik für die große Mehrheit der Menschen vieles dafür tun, dass die AfD an Zustimmung verliert.
Verloren an Zustimmung hat die SPD während der Ampelregierung. Sehen Sie eigene Fehler, die zu diesem Vertrauensverlust in die Sozialdemokratie beigetragen haben?
Wir hätten sicherlich die Zusammenarbeit mit dem zockenden Christian Lindner früher beenden können.
Wir dachten an inhaltliche Fehler der SPD.
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine, aber spätestens nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Haushalt hätten wir in der Koalition gemeinsam neue Prioritäten setzen müssen. Die Sicherung des Industriestandorts hätte schneller Thema Nummer eins sein müssen.
Was ist mit dem Bürgergeld? SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zeigt sich in einer neuen Koalition zur Nachsteuerung bereit, um zu verhindern, dass das System ausgenutzt wird. Besteht also Handlungsbedarf?
Die Ideen haben wir im Kabinett schon auf den Weg gebracht: Mehr Druck und Sanktionen bei Totalverweigerern und Schwarzarbeit. Weil die FDP weggerannt ist, konnten wir das im Bundestag nicht mehr beschließen. Zudem bringen wir ukrainische Geflüchtete schneller in Arbeit.
Wie?
Mit Qualifizierung, Weiterbildung und besserer Vermittlung. Für alle gilt: Wer arbeiten kann – und ich sage ausdrücklich kann –, der muss arbeiten.
Trifft das auf die knapp vier Millionen der 5,5 Millionen Bürgergeld-Empfänger zu, die als erwerbsfähig gelten?
Hunderttausende Menschen sind im Bürgergeld, obwohl sie arbeiten gehen. Das sind oft alleinerziehende Frauen. Das ist doch der eigentliche Skandal, wenn jemand arbeiten geht und trotzdem nicht genug Geld hat und deshalb Unterstützung des Staates benötigt. Dafür braucht es höhere Löhne. Wir kämpfen für einen Mindestlohn von 15 Euro als untere Haltelinie. Das wäre schlagartig eine Gehaltserhöhung für Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ja fleißig sind. Darüber hinaus sind in den Zahlen auch 1,8 Millionen Kinder eingerechnet.
Unabhängig von diesen Zahlen gilt dennoch ein großer Teil als arbeitsfähig. Müsste es vielleicht eine zeitliche Begrenzung der Hilfe geben?
Unser Ziel ist immer, Menschen in Arbeit zu bringen. Und deshalb bin ich da auch sehr klar, dass es nicht geht, wenn jemand eine staatliche Leistung bekommt und sich zurücklehnt oder schwarzarbeitet. Ich will, dass der Staat in diesen Fällen hart reagiert. Aber die Zahlen zeigen doch auch, dass Menschen, die staatliche Unterstützung bekommen, nicht alle in einen Topf geworfen werden können. Man kann nicht pauschal sagen, wer Bürgergeld bekommt, ist faul. Das finde ich populistisch.
Unter Gerhard Schröder war es seinerzeit einer SPD-Regierung gelungen, die Wirtschaft aus einem Tief herauszuholen. Warum fehlt der SPD heute der Mut zu echten Reformen? Trauen Sie sich nicht, den Menschen etwas zuzumuten?
Ich bin sogar für sehr harte Reformen in diesem Land. Aber es sollten die richtigen Reformen sein. Das Problem sind nicht faule Beschäftigte, wie einige suggerieren, sondern vor allem mangelnde Investitionen. Es braucht mehr Geld in Infrastruktur, in Bildung, Digitalisierung.
Die die Ampel versäumt hat?
Es ist über 20 Jahre in Deutschland nicht genügend investiert worden, unsere Straßen, Schulen und Schienen sind verschlissen. Das sieht doch jeder. Dafür wollen wir eine Reform der Schuldenbremse und einen Deutschlandfonds für öffentliches und privates Kapital auf den Weg bringen. Das sichert den Standort.
Laut Forsa ist die wirtschaftliche Entwicklung das entscheidende Thema im Wahlkampf. Ausgerechnet auf diesem Feld messen Ihnen die Wähler „keinerlei“ Kompetenz zu. Die SPD verspricht nun Investitionszuschüsse von 12 bis 18 Milliarden Euro pro Jahr für einen „Made in Germany“-Bonus. Sind immer neue Subventionen der richtige Weg, um die Wirtschaft wieder flottzumachen?
Wichtig ist, dass hier bei uns Arbeitsplätze gesichert werden. Unternehmen, die dafür in Deutschland investieren, bekommen 10 Prozent Steuerbonus. Das ist unkompliziert, unbürokratisch und zielgerichtet. Die Union kommt mit einer pauschalen Unternehmenssteuersenkung um die Ecke. Wir lehnen dieses Gießkannenprinzip ab.
Wir hören seit 20 Jahren, die Bürokratie müsse abgebaut werden, aber es wird immer schlimmer. Nennen Sie bitte konkrete Beispiele, wo Sie Bürokratie abbauen werden.
Nachhaltigkeitsberichte, die Unternehmen nach Brüssel schicken müssen, überprüft die Europäische Kommission erst zwei Jahre später. Bis dahin haben die Firmen schon drei neue geschrieben. Das ist doch Unsinn. Durch Förderprogramme des Bundes steigt auch niemand mehr durch. Hier soll unser „Made in Germany“-Bonus unkompliziert helfen. Und ein drittes Beispiel: Wie groß Kita-Räume sind, muss nicht der Bund zentral festlegen. Da können wir schon Bürgermeistern mehr vertrauen.
Dann muss auch die SPD mal über ihren Schatten springen und das umsetzen.
Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass wir hier in der kommenden Legislatur große Schritte gehen müssen. Allerdings brauchen wir dann auch eine andere Fehler- und Verantwortungskultur in unserem Land. Dass nicht alle immer auf die höhere Ebene zeigen, wenn mal was schiefgeht. Und klar ist auch: Mir geht es nicht um weniger Staat, sondern mir geht es um einen Staat, der besser, einfacher und effizienter ist.
Muss es für einen solchen Staat nicht mehr individuelles Engagement geben? In Magdeburg hat wieder ein Attentäter zugeschlagen, bei dem eine Gefährderansprache nur deshalb nicht geklappt hat, weil er nicht angetroffen wurde.
Dieser Themensprung ist hart. Magdeburg hat mich wahnsinnig bewegt. Die genauen Hintergründe werden umfassend aufgeklärt. Wenn es Hinweise gibt, müssen die Sicherheitsbehörden selbstverständlich darauf reagieren. Dafür brauchen Sie entsprechende Befugnisse und eine ordentliche Ausstattung. Darüber zu reden, ist zielführender, als wieder einmal eine Generaldebatte über Migration anzuheizen, wie es CDU und CSU machen.
Klingbeil: „Gezielte Lüge eine neue Qualität im Wahlkampf“
Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine Äußerung des CDU-Politikers Roderich Kiesewetter als Falschbehauptung zurückgewiesen, er plane eine Reise nach Moskau. Wäre eine Reise nach Moskau gut oder schlecht vor der Wahl?
Für mich war diese gezielte Lüge eine neue Qualität im Wahlkampf. Es ist gut, dass Herr Kiesewetter das auf unseren Druck zurückgenommen hat. Das darf unter demokratischen Parteien nicht passieren.
Hilft das Fairnessabkommen, das alle Fraktionen im Bundestag außer AfD und BSW für den Wahlkampf geschlossen haben?
Es hat mit dazu geführt, dass Herr Kiesewetter seinen Tweet gelöscht hat.
Und noch mal: Wäre eine Moskau-Reise gut oder schlecht?
Es wäre gut, wenn der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine endet. Die Verantwortung dafür trägt Putin. Alle diplomatischen Initiativen, die dabei helfen, sind richtig. Deswegen ist es auch richtig, dass der Bundeskanzler das direkte Gespräch in Telefonaten mit Putin gesucht hat. Es geht ja auch um die Frage, was passiert, wenn Donald Trump als US‑Präsident am 20. Januar ins Weiße Haus zurückkommt. Es ist richtig, wenn Olaf Scholz sehr klar sagt, Europa muss da mitreden, und wir die Ukraine tatkräftig unterstützen. Trump könnte versuchen, mit Putin über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer – und damit auch über die der Europäer – hinweg einen faulen Deal zu machen.
Trump erhebt gerade Anspruch auf den Panama-Kanal und Grönland. Wie neu muss Deutschland denn grundsätzlich das transatlantische Verhältnis denken?
Solche Drohkulissen halte ich für problematisch. Sie zeigen, dass die erneute Zusammenarbeit mit Trump herausfordernd wird. Trotzdem bin ich sehr klar: Amerika bleibt für uns der international wichtigste Partner. Was nicht heißt, dass wir uns Forderungen und Aussagen von Trump einfach so ergeben werden. Auch wir haben Interessen und die können wir am besten vertreten, wenn wir in Europa geschlossen agieren. Darauf kommt es jetzt mehr denn je an.
Zum Schluss: Ist für die SPD vorstellbar, als Juniorpartner in eine große Koalition unter Friedrich Merz einzusteigen? Und sagen Sie jetzt bitte nicht nur, die SPD setzt auf Sieg.
Die SPD setzt auf Sieg.