Herr Gazeas, warum haben Sie als Anwalt Ihrem Mandanten Alexei Nawalny nicht davon abgeraten, nach Russland zurückzukehren und sich damit in die Fänge der russischen Justiz zu begeben?Gazeas: Wir haben die Gefahren mit Herrn Nawalny und seinem Team eingehend besprochen. Er war sich dieser Gefahren zu jedem Zeitpunkt voll gewahr – weit besser, als ich es aus meiner Perspektive auf die Verhältnisse in Russland je hätte sein können. Als mutiger, furchtloser Mensch und überzeugter Oppositionspolitiker hat er sich absolut autark und aus freien Stücken dafür entschieden, Wladimir Putin und seinem Regime in Russland die Stirn zu bieten, und das nicht erst jetzt, sondern gleich nach seinem Erwachen aus dem Koma. Herr Nawalny hat nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass sein Platz als Oppositioneller in seiner Heimat ist – und Deutschland nur ein vorübergehender Aufenthaltsort zur Genesung. Er hat mit seinem Team im Übrigen für seine Rückkehr alle denkbaren Szenarien durchgespielt.
Nikolaos Gazeas
Nikolaos Gazeas, geb. 1982 ist Rechtsanwalt und Strafverteidiger mit einem Schwerpunkt im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Er ist mit eigener Kanzlei in Köln und Lehrbeauftragter der Universität zu Köln. Er ist unter anderem auf Auslieferungsverfahren und Rechtshilfesachen spezialisiert und hat häufig Mandate mit Politik-Bezug. Gazeas wird regelmäßig auch als Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Deutschen Bundestages und der Landtage tätig. (jf)
Wir haben mit Willkürakten und durchaus auch mit skurrilen juristischen Winkelzügen gerechnet. Wovon wir aber tatsächlich überrascht waren, ist die anscheinende Hilflosigkeit, die das Putin-Regime mit seinem nur vermeintlich harten Handeln in den letzten beiden Tagen an den Tag gelegt hat: Die Umleitung von Nawalnys Flug, seine Festnahme direkt auf dem Flughafen, die Weigerung, seine Anwälte zu ihm zu lassen, der faktische Ausschluss der freien Presse von der öffentlichen Verhandlung, der irritierend dilettantische Scheinprozess auf der Polizeiwache, die hanebüchen konstruierten Vorwürfe – das ist ein fast verzweifelt wirkendes Handeln bei gleichzeitiger Behauptung, Nawalny sei völlig unbedeutend und deshalb nicht einmal der Erwähnung durch den Kreml wert. An den letzten zwei Tagen hat sich nicht zuletzt auch die russische Justiz auf offener Bühne und vor den Augen der gesamten Welt – man muss es so sagen – der Lächerlichkeit preisgegeben.
Was ist eigentlich Ihre Rolle als deutscher Rechtsanwalt?Ich bin in Deutschland natürlich nicht als Strafverteidiger für Herrn Nawalny tätig. Vielmehr hat er mich als juristischen Beistand in die strafrechtlichen Rechtshilfe-Ersuchen Russlands an Deutschland mandatiert und darüber hinaus als anwaltlichen Vertreter in allen Kontakten mit der Bundesregierung, also vor allem mit dem Kanzleramt, dem Auswärtigen Amt und dem Justizministerium – etwa auch zu Erkenntnissen der Bundesregierung über seine Vergiftung.
Es war jetzt viel von Bewährungsauflagen die Rede, die Nawalny in Deutschland verletzt haben soll. Worum geht es da genau?
Das gehört zu den besonderen Absurditäten dieses Verfahrens. Nawalnys Bewährungsauflagen sahen vor, dass er sich regelmäßig bei der russischen Polizei melden musste. Das konnte er ab August erkennbar nicht mehr tun, als er nur knapp dem Tode entkommen war. Die russischen Behörden beriefen sich darauf, ihnen Nawalnys Aufenthaltsort seit August nicht mehr bekannt gewesen. Er habe den Wechsel seines Aufenthaltsortes nicht mitgeteilt. Nun, die ganze Welt wusste, dass Nawalny zeitweilig in der Berliner Charité behandelt wurde, und er hatte auch nach seiner Entlassung aus der Klinik einen offiziellen Aufenthaltsort, der den deutschen Behörden bekannt war. Die russische Seite hätte das jederzeit erfragen können. Wir haben das „Urteil“ vom Montag inzwischen eingehend geprüft. Das Gericht beruft sich darin auf Normen im russischen Recht, die auf Nawalnys Situation in keiner Weise anwendbar sind. Hier wurde das Strafvollstreckungsrecht ebenso wie das Prozessrecht rechtswidrig angewandt und instrumentalisiert für die Verfolgung eines politischen Gegners. Ein lupenreiner Fall fortgesetzter politischer Verfolgung.
Wieso fortgesetzt?
Man muss immer wieder daran erinnern, dass schon die Bewährungsstrafe gegen Nawalny aus dem Jahr 2014 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2017 für evident „willkürlich“ erklärt worden ist. Nawalnys Verurteilung war nach einstimmigem Judikat der Straßburger Richter ein Verstoß gegen Urprinzipien des Rechtsstaats wie zum Beispiel den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“. Doch wie auch in anderen Fällen Nawalnys, in denen Straßburg Menschenrechtsverstöße klar festgestellt hat, weigert sich Russland beharrlich, das Urteil des EGMR anzuerkennen. Stattdessen hat das Putin-Regime versucht alles mögliche zu unternehmen, um Nawalnys Rückkehr nach Russland zu verhindern. Noch im Dezember hat man mit fadenscheinigen Begründungen neue Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt. Das steht in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass sich die russische Regierung bis zum heutigen Tag weigert, zu dem versuchten Giftmord an Nawalny ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und den Vorgang zu untersuchen. Stattdessen behauptet man in Sowjet-Manier schlicht, es habe gar keine Vergiftung gegeben.