Angela Merkel prägte als Kanzlerin eine Ära. An diesem Mittwoch wird sie 70 Jahre alt – und befasst sich mit Lebensfragen, heißt es. Mit der CDU scheint sie quitt zu sein.
„Jetzt bin ich frei“Wie Angela Merkel nach ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin neue Wege geht
Berlin - Angela Merkel marschiert in das Bundestagsgebäude, wie sie es immer gemacht hat. Unprätentiös in einem ihrer Blazer, Halskette, schneller Schritt. Aber es ist nicht wie immer. Es ist „etwas verwegen“, wie sie es nennt. Sie hat sich rar gemacht in der Öffentlichkeit und hält Distanz zu ihrer CDU, aber Mitte Mai hält sie eine Laudatio auf Jürgen Trittin. Ausgerechnet. Grünen-Urgestein, Kritiker ihrer Politik und nun freiwillig auf dem Rückzug aus dem Bundestag, nach rund einem Vierteljahrhundert.
Das gefällt Merkel, die anders als alle ihre Vorgänger selbstbestimmt das Kanzleramt verlassen hat. Seither will sie nur noch machen, wozu sie Lust hat, was sie noch nicht kennt, was sie reizt. Als Kanzlerin oder CDU-Chefin hätte sie Trittin nie würdigen können. Jetzt ist das möglich. Es ist Ausdruck ihrer neuen Freiheit.
„Freiheit“ ist auch das einzige Wort, das bisher aus ihrem Buch bekannt ist, das im November erscheint. Es ist der Titel. Und sagt doch schon so viel mehr. Es ist der Dreh- und Angelpunkt im Leben der Frau, die nur durch den Fall der Mauer in die Politik kam und dann so frei war, 16 Jahre, von 2005 bis 2021, dieses Land zu regieren. In guten wie in schlechten Zeiten – und immer fremdbestimmt. Nicht einmal als mächtigste Frau der Welt, zu der sie das US-Magazin „Forbes“ zehnmal in Folge kürte, kann man machen, was man will.
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Inzwischen ist ihr Leben ein anderes. Die Politik war kein Gefängnis, aber Merkel kam erst nach ihrem Ausscheiden dorthin, wonach sie sich in den letzten Jahren ihrer Kanzlerschaft zunehmend gesehnt hat. In einem Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat sie es 2022 so formuliert: „Jetzt bin ich frei.“ Sie habe bisher nur wenig gemacht, was viele Menschen gern und selbstverständlich täten, sagte sie damals. „Ich gehe jetzt in den Teil meines Lebens, der mir bis dahin verwehrt war. Als Mensch.“
An diesem Mittwoch wird die in Hamburg geborene und in der Uckermark in der DDR aufgewachsene Tochter eines Pfarrers und einer Englischlehrerin 70 Jahre alt. Merkel tut sich dem Vernehmen nach schwer mit dieser Zahl. Wenn man in Jahrzehnten denkt, dann war sie an ihrem 60. Geburtstag abgelenkt von der Griechenland-Krise, der Weltpolitik, die sie mitbestimmte. Das Altern war noch fern. Zeit zum Innehalten gab es nicht. Auch in den vergangenen beiden Jahren nicht, denn da hat sie mit ihrer gefühlt schon ewigen Vertrauten und politischen Beraterin Beate Baumann an ihren Memoiren gearbeitet.
Distanz zur CDU
Es ist ein einschneidender runder Geburtstag, der einen nachdenken lässt über den Rest, der einem im Leben noch bleibt. Damit befasse sie sich, heißt es. Und man kann sich gut vorstellen, wie sie sich als Wissenschaftlerin diesem Phänomen, um nicht Problem zu sagen, nähert. Nämlich vom Ende her. Einer der wenigen Sätze, mit denen sich die verschwiegene Beate Baumann über Merkel je zitieren ließ, lautet so: „Sie denkt vom Ende her und reiht dann Perlchen an Perlchen aneinander, bis das Ziel erreicht ist.“ Baumann sagte das schon im Jahr 2000 im „Spiegel“, nachdem Merkel als Generalsekretärin den CDU-Übervater Helmut Kohl wegen der Spendenaffäre vom Thron gestoßen hatte. Nun, im Jahr 2024, bricht für Merkel ein Jahrzehnt an als ein Mensch, der alt wird.
Ihren Geburtstag feiert sie in privatem Kreis. Eine große Sause ist nicht ihr Ding. So lässt sie sich für den offiziellen Teil auch nur auf einen Empfang der CDU-Spitze unter Friedrich Merz in der Akademie der Wissenschaften in Berlin am 25. September ein. Wissenschaft geht für sie immer. Verpflichtungen für die CDU hingegen lehnt sie ab. Sie hat sie längst erfüllt, mag ihre Einstellung dazu sein. So will sie nicht Ehrenvorsitzende der Partei werden. Und sie hat der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) den Rücken gekehrt. „Ich bin da rausgewachsen“, soll sie dem KAS-Vorsitzenden Norbert Lammert gegen Ende vorigen Jahres gesagt haben.
Einige Christdemokraten werfen ihr Undankbarkeit vor. Ohne die CDU wäre sie schließlich nie Kanzlerin geworden, heißt es. Ohne Merkel wäre die Union aber vielleicht auch nicht so lange an der Macht gewesen. Man hat das Gefühl, Merkel findet, sie und die CDU seien quitt. Merkel ging 16 Jahre lang morgens ins Kanzleramt und wusste nie, welche Krisen und Kräfte diesmal auf sie einwirken würden und ob abends ihre Welt noch dieselbe sein würde. Regieren lässt keinen Raum für Privatleben, oft auch nicht für Gesundheit. Zum Ende ihrer Amtszeit machten Merkel Zitteranfälle zu schaffen. Mehr eine Kopfsache als eine körperliche Schwäche. Merkel hat das weggedrückt in dem Amt, für das sie immer brannte – und zum Schluss auszubrennen drohte.
Sie hätte 2017 auf ihre vierte Kanzlerkandidatur verzichtet, wenn die Erwartungen an sie nicht so hoch gewesen wären. Aber sie musste den Einschnitt durch den Umgang mit der Flüchtlingskrise und ihrem „Wir schaffen das“ zur Aufnahme von rund einer Million syrischer Geflüchtete in Deutschland selbst verantworten. Maßgeblich drängte sie Wolfgang Schäuble dazu, den sie 2000 als CDU-Chef wegen der Spendenaffäre ebenso weggefegt und die Parteiführung übernommen hatte.
Friedrich Merz sei der eigentliche Grund für Merkels Distanz zur Partei, sagen andere in der Union. Ihn hatte Merkel 2002 als Bundestagsfraktionschef abserviert. Er werde diese Kränkung nicht vergessen, stand damals in den Medien. 20 Jahre später scheint sich die Vermutung zu bestätigen, dass es eines seiner großen Ziele war, es Merkel zu zeigen. Er ist CDU-Vorsitzender geworden, kappt ihre Ausrichtung der Partei in die Mitte und strebt mit einem konservativen Profil die Kanzlerkandidatur an.
Was also sollte sie neulich auf dem CDU-Parteitag? Das neue Grundsatzprogramm beklatschen, das ihrem Anspruch nicht gerecht wird? Sich von Merz anhören, was sie 16 Jahre falsch gemacht hat? Auch davon scheint sich Merkel freigemacht zu haben. Sie will auch in keine Gremien mehr, nicht aktiv mitwirken, von möglicher punktueller Wahlkampfhilfe 2025 vielleicht abgesehen.
Alle Krisen überstanden
Jens Spahn, heute Stellvertreter von Merz im Bundestag, vormals Gesundheitsminister und oft „Merkel-Kritiker“ genannt, weil er zu den wenigen Leuten in der Partei gehörte, die Merkel auch offen Vorwürfe gemacht haben, formuliert seine Bilanz zu Merkels Siebzigstem so: Mit dem Wissen „von heute“, würde die Union in drei Fragen anders entscheiden. „Die massenhafte irreguläre Migration seit 2015 hat die deutsche Gesellschaft destabilisiert und überfordert“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Mit Putins Russland hätten wir spätestens ab 2014 ganz anders umgehen müssen. Allerdings hat sich die Kanzlerin anders als die SPD über Putins wahren Charakter nie einer Illusion hingegeben.“ Und der Ausstieg aus der Kernenergie sei „im Rückblick“ auch klimapolitisch ein schwerer Fehler gewesen.
Zur Bilanz gehört für Spahn aber auch dies: „Unter Merkel gab es den längsten Aufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Die Union habe mit ihr an der Spitze viele Wahlsiege errungen und bei der Bundestagswahl 2013 fast die absolute Mehrheit erreicht. „Es kann also nicht alles falsch gewesen sein.“ Ohne Merkel an der Spitze hat die Union zumindest die Wahl 2021 verloren. Merkel hingegen hat alle Krisen ihrer Amtszeit überstanden und war lange dienstälteste Regierungschefin in Europa. Andere scheiterten an der Finanz-, der Schulden-, der Griechenland- oder der Flüchtlingskrise. Zuletzt führte sie Deutschland durch die Corona-Krise. Sie war „Kohls Mädchen“, und wurde „Mutter Angela“, und die „Eiskönigin“ genannt.
Auf ihrer letzten Sommer-Pressekonferenz räumte sie ein, dass sie zu wenig gegen die Klimakrise unternommen habe. Den umstrittenen Umgang der Bundesregierungen unter ihrer Führung mit Russland erklärt sie aus den Zwängen der Zeit heraus. Eine Entschuldigung ist ihrer Ansicht nach nicht angebracht. Und der Reformstau im Land fällt auch in ihre Kategorie, dass oft anderes wichtiger war. Jedenfalls wirkt sie mit sich im Reinen.
Das Verbindende suchen
Norbert Lammert, der sie als Bundestagspräsident 2005 erstmals als Kanzlerin vereidigt hat, sagt dem RND über sie: „Alleine die für eine ernst zu nehmende Demokratie ungewöhnlich lange Regierungszeit legt den Begriff Ära für die Amtszeit von Angela Merkel als Bundeskanzlerin nahe.“ Ihr Krisenmanagement sei so kompetent wie unprätentiös gewesen. Und: „Ich vermute stark, dass die beinahe nahtlos, wie eine Perlenkette sich aneinanderreihenden Krisen, die ihre Regierungszeit begleitet und geprägt haben, sehr stark in der Erinnerung dieser Ära Merkel bleiben werden.“
Armin Laschet, glückloser Kanzlerkandidat der Union 2021, erinnert sich an die menschliche Seite Merkels. Einen Tag vor der für die CDU so wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2017 besuchte sie ihn in seinem Wohnort, dem Aachener Stadtteil Burtscheid. Sie habe persönlich Interesse an seiner Familie, seiner Herkunft und seinem Umfeld gezeigt, sagt Laschet dem RND. Diese Wertschätzung sei in der Politik eher ungewöhnlich. Laschet gewann die Wahl.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagt, Merkel habe die besondere Gabe, im Umgang mit Menschen das Verbindende zu suchen und die Beweggründe des anderen zu verstehen. In Verhandlungen ermögliche das Kompromisse, die nicht nur ertragen, sondern gemeinsam getragen werden könnten, sagt Esken dem RND.
Ihr Buch „Freiheit“ erscheint im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Auf dessen Internetseite steht dazu von Merkel so viel: „Freiheit ist für mich, nicht aufzuhören zu lernen, nicht stehen bleiben zu müssen, sondern weiter gehen zu dürfen, auch nach dem Ausscheiden aus der Politik.“ Altes loslassen. Neues entdecken. Sie ist so frei.