- Johannes-Wilhelm Rörig ist seit 2011 Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Herr Rörig, die von Ihnen berufene Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat die Vorgänge im Erzbistum Köln als Negativbeispiel für Aufarbeitung kritisiert. Teilen Sie diese Position?Johannes-Wilhelm Rörig: Die Kommission ist – wie der Name schon sagt – unabhängig, auch von mir. Ich persönlich sehe die „Kölner Wirren“ als Störung der unabhängigen Aufarbeitung in den einzelnen Diözesen, die gerade in den Startlöchern steht. Kardinal Woelki hat zunächst einmal 2018 die richtige Entscheidung getroffen, bei der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) ein Gutachten in Auftrag zu geben mit dem Ziel voller Transparenz samt Namensnennung von Verantwortlichen.
Ein Gutachten, das er nach Gutdünken publizieren oder in die Schublade legen kann.
Im Ergebnis ist das sicher eine schwere Belastung, insbesondere für die Betroffenen und die in der Aufarbeitung Engagierten. Aber zunächst einmal ist Kardinal Woelki als konservativer Kirchenmann vorangegangen. Er hätte sich auch, wie andere, hinstellen und sagen können: Ich mache erst mal gar nichts. Das hat er nicht getan, im Gegenteil. Mit seiner Initiative hat er sehr, sehr hohe Erwartungen geweckt. Die hat er dann auf der Strecke mehrfach enttäuscht. Und im Moment fehlt es an dem, was für Aufarbeitung am Wichtigsten ist: Transparenz und Vertrauen, Hoffnung, Zuversicht. Köln erzeugt gerade leider das Gegenteil: Misstrauen und Skepsis.
Was ist aus Ihrer Sicht die Bedingung dafür, dass Vertrauen neu entstehen kann?
Bis zur Vorlage des Ersatzgutachtens am 18. März wird man jetzt noch abwarten müssen. Danach wird man ja erstens lesen und sich ein Urteil bilden können, ob Kardinal Woelkis Entscheidung sachgerecht war, das Münchner Gutachten nicht zu veröffentlichen und ein Ersatzgutachten in Auftrag zu geben. Und zweitens hat das Erzbistum Köln die Aufgabe, sich mit aller Kraft für eine erfolgreiche unabhängige Aufarbeitung einzusetzen und diese ohne Wenn und Aber zu unterstützen, unabhängig davon, wer nach dem 18. März dort Erzbischof ist.
Zur Person
Johannes-Wilhelm Rörig, geb. 1959, ist seit 2011 Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Bundesregierung schuf dieses Amt für die Anliegen von Betroffenen und deren Angehörigen, für Expertinnen und Experten aus Praxis und Wissenschaft sowie für alle Menschen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren. (jf)
Gemäß einer Vereinbarung mit Ihnen als Missbrauchsbeauftragtem der Bundesregierung soll jetzt jedes Bistum eine eigene Aufarbeitung in Gang setzen. Das klingt wie in Dürrenmatts Stück „Der Stall des Augias“: Beschlossen schon, wir bilden eine Kommission.
Es war nach der bundesweiten MHG-Studie von 2018 immer klar, dass – begrüßenswerte – Rechtsgutachten in den einzelnen Bistümern nur ein Baustein der weiteren Aufarbeitung sein können. Und schon aufgrund der schieren Größe – es gibt in Deutschland allein 14.000 katholische Pfarreien – finde ich einen dezentralen Ansatz richtig. Bereits 2018 bin ich dazu mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, übereingekommen: Aufarbeiten kann und soll die Kirche nicht allein. Kirche braucht Expertise von außen, Unterstützung auch vonseiten des Staates und – ganz wichtig – Beteiligung der Betroffenen. Daraus ist das Konzept der unabhängigen Kommissionen geworden. Es nimmt den Ortsbischöfen die Steuerung aus der Hand, entlässt sie und die Kirche aber nicht aus der Verantwortung.
Wie das? Die Vereinbarung regelt doch geradezu akribisch die Beteiligung der Bischöfe und ihre Rechte etwa bei der Besetzung der Kommissionen. Kann die Kirche nicht doch wieder machen, was sie will?
Ganz sicher nicht. Einen solchen Blankoscheck hätte ich niemals unterschrieben. Laut Kirchenrecht ist aber in einer Diözese ohne oder gegen den Bischof wenig zu machen. Wir brauchen den Bischof formal als Türöffner und Gewährsmann unabhängiger Aufarbeitung. Er darf den oder die Kirchenvertreter in der Kommission benennen sowie die – von anderer Seite benannten – nichtkirchlichen Mitglieder formal berufen, aber darin erschöpft sich dann auch seine Rolle. Es gibt keinerlei Weisungs- oder Eingriffsrechte des Ortsordinarius in die Arbeit der diözesanen Kommission.
Sie sagen also: Mehr Unabhängigkeit geht nicht. Was ist denn mit dem Ruf nach Wahrheitskommissionen auf gesetzlicher Grundlage, in denen die Kirche als „Täterinstitution“ wirklich mal außen vor wäre?
Die Kommissionen arbeiten frei von kirchlichem Einfluss. Dafür stehe ich. Auf Drängen der Betroffenen haben wir auch festgeschrieben, dass alle Berichte der Kommissionen 1:1 von den Bistümern zu veröffentlichen sind. Die von den Landesregierungen benannten externen Expertinnen und Experten werden sich überdies schon aus Eigeninteresse nicht vorwerfen lassen wollen, sie seien Büttel der Kirche. Für andere Modelle, etwa einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder gar ein neues Gremium fehlt im Übrigen der politische Wille. Für so etwas wie Wahrheitskommissionen gibt es in Deutschland keine gesetzliche Grundlage. Ich bin im Bundestag Klinken putzen gegangen, und ich kann Ihnen sagen: Das Interesse an einer klaren Verantwortungsübernahme – auch auf gesetzlicher Grundlage - war ausgesprochen gering. Und selbst wenn es ernsthafte politische Unterstützung gäbe: Bis ein solches Gesetz stünde, würden Jahre vergehen. Wie lange wollen wir denn noch warten mit der Aufarbeitung?
Es gibt eine Beißhemmung der Politik gegenüber der Kirche?
Sagen wir so: Es wird bei passender Gelegenheit ganz gerne mal „Buh!“ gerufen, wie jetzt angesichts der Lage in Köln. Aber von konstruktiver Unterstützung für einen fundierten Prozess der Aufarbeitung kann keine Rede sein. Das allerdings ist nach meiner Wahrnehmung keine originäre Schonung der Kirche. Wenn die Politik sich überhaupt für Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch interessiert, dann immerhin noch im Feld der Kirchen. Sport, Schule, der familiäre Kontext interessieren die Politik noch weniger. All diese Bereiche fallen, mal im Klartext gesprochen, eher hinten runter.
Dann stimmt die Klage, dass die katholische Kirche ein Stück weit Buhmann oder Sündenbock ist, auf den man einen generellen Missstand ablädt?
Ich bin der Unabhängigen Aufarbeitungskommission sehr dankbar, dass Sie das Thema „Missbrauch im Sport“ jetzt in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gerückt hat. So langsam kommt da eine Diskussion in Gang. Und auch die Aufarbeitung im schulischen Kontext steht bei uns auf der Agenda.
Woran liegt es eigentlich, dass die Sportverbände sich so beharrlich wie erfolgreich einer Konfrontation mit dem Problem des Missbrauchs entziehen können?
Die Aufarbeitung von Missbrauch gehört zum Schmerzhaftesten, was eine Institution sich vornehmen kann. Es gibt leider in den Vereinen, aber auch den Führungsetagen der Sportverbände den Drang, sich damit nicht beschäftigen zu wollen. Das Bewusstsein für das Problem und die Notwendigkeit sind nicht so verankert, wie es sein müsste. Mit der Prävention kommen wir Stück für Stück voran, auch im Kontext Schule. Für das Thema Aufarbeitung kann ich das leider noch nicht behaupten.
Wie sieht das eigentlich bei der anderen Abteilung mit dem C aus? Macht es sich die evangelische Kirche im Windschatten der katholischen bequem, zu bequem?
Die evangelische Kirche hat sich vor zehn Jahren sicherlich nicht an die Spitze der Bewegung gestellt. Rein von den Zahlen ist das Ausmaß nach allem, was wir wissen, weit geringer als im katholischen Bereich. Aber inzwischen gibt es auch auf der Ebene der EKD immerhin einen Beauftragtenrat, einen Elf-Punkte-Plan zur Aufarbeitung und ein Forschungsprojekt zu spezifischen Risikofaktoren für Missbrauch im Raum der evangelischen Kirche. Seit einem Jahr diskutieren wir, ob das Modell der Unabhängigen Kommissionen in den katholischen Bistümern nicht auf die evangelischen Landeskirchen übertragbar ist. Eine entsprechende Vereinbarung steht unmittelbar bevor.
Noch einmal zurück zur katholischen Kirche. Sie sagten, die Unabhängigen Kommissionen der Bistümer stünden in den Startlöchern. Wie sieht es da in Köln aus?
Ich kann nicht in den Kopf des Kardinals oder seines Generalvikars gucken. Aber ich fühle mich mit dem Erzbistum auf gutem Wege. Ich nehme ein großes Interesse der Bistumsleitung wahr, und wir führen gute Gespräche, wie wir die Kommission an den Start bringen. Was jetzt ansteht, ist die konkrete Besetzung. Dazu müssen die Düsseldorfer Staatskanzlei und das Erzbistum jeweils ihre Experten bzw. Vertreter benennen. Schwierig gestaltet sich momentan die Entsendung von Vertretern aus den Reihen der Betroffenen. Da wirken sich aktuell die Konflikte in Köln negativ aus.
Und andernorts?
Das ist nicht eindeutig zu beantworten, und ich mache jetzt auch kein Benchmarking auf. Einige Bistümer überlegen zum Beispiel, sich zusammenzutun – das kleine Görlitz zum Beispiel mit dem benachbarten Berlin. Aber ich kann sagen, dass wir mit mehr als der Hälfte der Diözesen in konkreten Gesprächen sind. Und man wird ja sehen können, welche Bischöfe die Dinge vorantreiben und welche hier noch etwas mehr Energie an den Tag legen müssten.
Hoch umstritten ist die Frage der Opfer-Entschädigung und der Höhe der vorgesehenen finanziellen Leistungen. Die katholischen Bischöfe haben jetzt einen Rahmen von bis zu 50.000 Euro definiert. Zu viel, zu wenig, angemessen?
Ich habe die Festlegung im Jahr 2011 auf eine „Anerkennungsleistung“ von zumeist 5000 Euro immer für falsch gehalten. Diese Summe war einfach jämmerlich. Mir hätte es gut gefallen, wenn viel früher Beträge genannt worden wären, wie sie jetzt im Raum stehen. Wichtig ist mir, dass oben auf den 50.000 Euro kein Deckel ist. In vielen Fällen wird man mit einer Summe in dieser Größenordnung ein Stück Genugtuung für die Betroffenen erreichen können. Es wird aber auch Fälle geben, in denen auch ein solcher Betrag zu gering ist angesichts der entstandenen – auch materiellen – Schäden. Deshalb appelliere ich an das für die Auszahlung eingesetzte Gremium, in solchen Fällen auch über die 50.000 Euro hinauszugehen.
Fühlen Sie sich als Vertreter der Bundesregierung überhaupt befähigt oder berufen, sich zu theologischen oder kirchenrechtlichen Konsequenzen aus der Aufarbeitung des Missbrauchs zu äußern? Zu denken wäre an die Sexualmoral, das Priesterbild, die defizitäre Gewaltenteilung.
Ich finde es wichtig, dass die katholische Kirche auf ihrem „Synodalen Weg“ über Fragen wie den Klerikalismus, das Frauenbild oder die von Ihnen genannten Themen spricht. Als überzeugter Demokrat und Verfassungspatriot werde ich selbstverständlich alle Bemühungen gutheißen, absolutistische Strukturen zu überwinden und damit auf rechtsstaatliches Niveau zu kommen. Aber aus der innerkirchlichen Diskussion halte ich mich bewusst heraus.
Und was die personellen Konsequenzen – nicht zuletzt in Köln – betrifft?
Da erst recht. Ich kommentiere als Vertreter der Bundesregierung ja auch keine Personalentscheidungen von Parteien. Allerdings würde ich allen empfehlen, die ein wichtiges Amt bekleiden, sich sehr selbstkritisch zu befragen: Was waren die Folgen meines Handelns? Welche Schäden sind dadurch entstanden? Die Entscheidung, unbedingt an einem Amt zu kleben, ist in jedem Fall die falsche.