Köln – Der Militärexperte Carlo Masala, geboren und aufgewachsen in Köln, ist seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs in vielen Talkshows zu Gast. Denn nur wenige können den Konflikt so gut erklären wie der Politikwissenschaftler, der an der Bundeswehr-Universität München lehrt. Dreieinhalb Monate nach Beginn des Kriegs ist die Lage für viele einigermaßen unübersichtlich geworden. Im Interview gibt Carlo Masala einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen im Krieg, spricht aber auch über die Strategie des russischen Präsidenten.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind dreieinhalb Monate vergangen. Wie hat sich die Strategie Putins verändert?
Carlo Masala: Putins großer Plan war ja, in einem schnellen Vorstoß die beiden Oblaste Donezk und Luhansk im Osten zu besetzen und über eine Landbrücke eine Verbindung zur Krim zu schaffen. Außerdem wollte er Kiew besetzen, mindestens aber die Regierung festnehmen und eine Marionettenregierung installieren. Und er wollte die ukrainische Armee außer Gefecht setzen. Dieser Plan hat nicht funktioniert. Was viel damit zu tun hat, dass die militärische Führung von ihren Geheimdiensten Falschinformationen erhalten hat.
Weil angenommen wurde, dass ein großer Teil der Ukraine die Russen als Befreier begrüßen würden.
Genau. Darum gab es in den ersten zwei Wochen auch die vielen Bilder von Panzern, die liegen geblieben sind, weil sie keinen Sprit mehr hatten. Und russische Soldaten haben gehungert und sind desertiert, weil niemand Feldküchen mitgeführt hatte. Daraufhin haben die Streitkräfte ihre Taktik geändert: Die Armee hat sich auf den Osten der Ukraine konzentriert, auf die Eroberung der beiden Oblaste. Die Russen behaupten, sie halten bereits 95 Prozent. Ich bin da skeptisch, aber eine Zahl von 80 Prozent wird es wohl sein.
Welche Unterschiede sehen Sie in der Kriegsführung?
Die Russen gehen mit massiver Feuerkraft vor. Sie kämpfen, wie im Zweiten Weltkrieg gekämpft wurde. Viel Feuer und viel Kraft mit Massen von Menschen in der Hoffnung, die Ukrainer zu überrollen. Sie legen die Städte, die sie erobern wollen, in Schutt und Asche. In punkto Artillerie sind sie der Ukraine weit überlegen. Die Ukrainer führen aber immer wieder erfolgreich Gegenoffensiven durch. Sie versuchen, die Russen in Straßen- und Häuserkämpfe zu verwickeln. Bei diesem dynamischen Stellungskrieg bewegt sich auf dem großen Bild nicht so viel. Das ist eher wie eine Schnecke. Momentan ist die russische Armee allerdings leicht im Vorteil, gewinnt ein bis vier Kilometer am Tag an Territorium.
Die Ukrainer versuchen, massive Zerstörungen ihrer Städte zu vermeiden bei dem Versuch, die Russen zurückzudrängen. Schwächt sie das?
Ja, das schwächt sie. Und eigentlich haben sie auch gar nicht die Technik, um die Zerstörungen zu vermeiden, weil ihnen die Ortungsgeräte fehlen, um zielgerichtet aus weiter Entfernung auf Feuerquellen schießen – im Gegensatz zu den Russen. Im Donbass nehmen die Russen derzeit vor allem Wohngebiete ein, während die Ukrainer versuchen, ihre großen Industriegebiete zu verteidigen, die für den Rest des Landes wichtig sind. Wenn die Russen das alles unter ihre Kontrolle bringen, ist der Donbass komplett verloren.
„Den Russen geht es um das Territorium”
Was haben die Russen von der Besetzung von Städten, die Schutthaufen gleichen?
Ihnen geht es um das Territorium, völlig egal, wie sie die Städte übernehmen.
Russland verfügt auch wegen unserer Gaskäufe über viel Geld. Der Ukraine steht potentiell die Welt als Waffenlieferant bei. Könnte sich die Situation im kommenden Jahr gar nicht mehr groß verändern – bei einem hohen Verschleiß an Waffen und großen Verlusten an Soldaten?
Das ist durchaus vorstellbar. Falls die angekündigten Waffenlieferungen schnell und umfänglich in die Ukraine kommen, könnte das die Streitkräfte in die Lage versetzen, diesen Krieg noch lange fortzuführen. Von russischer Seite ist dies ohnehin der Plan. Putin hat viel mehr Menschen, die er noch an die Front schicken kann. Wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Krieg noch sehr lange dauern wird, dass es ein Abnutzungskrieg werden wird. Denn die Ukraine wird in der Lage sein, den Russen Verluste zuzufügen und sie auf Distanz zu halten. Aber um die Russen zurückzudrängen, dafür fehlen ihnen die spezifischen Waffen.
Die Brutalität dieses Krieges entsetzt viele, die systematischen Kriegsverbrechen auf russischer Seite, die Vergewaltigungen und das Morden in der Zivilbevölkerung. Was bezweckt Putin damit?
Für Putin sind Ukrainer keine gleichwertigen Menschen – spätestens, seitdem feststeht, dass die Annahme falsch war, die Russen würden als Befreier wahrgenommen werden. Und entsprechend geht er mit den Ukrainern auch um. Es ist eine Strategie der russischen Kriegsführung, neben der Absicht, Hungersnöte und Flüchtlingsströme zu erzeugen. Sie wollen die Zivilbevölkerung so lange terrorisieren, zermürben und demütigen, bis diese ihren Präsidenten auffordert, den Krieg zu beenden.
Derzeit bewirken die Russen das Gegenteil.
Absolut. 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Politik von Präsident Selenski und die ukrainischen Streitkräfte vollumfänglich. Wenn die Ukraine jemals ein Problem hatte, ein Nationalstaat zu sein, hat Putin dafür gesorgt, dass sie jetzt einer ist.
Putin nimmt auch in der eigenen Armee erhebliche Verluste in Kauf.
Das stimmt. Aber es sind auch nicht die ethnischen Russen aus Moskau oder Sankt Petersburg, die bislang im Krieg sterben, sondern ethnische Minoritäten aus den ferner entlegenen Gegenden. Denn die haben nicht das Potential, dem Kreml massive Probleme zu bereiten. Wenn Putin die Männer aus Moskau und Sankt Petersburg an die Front schmeißen und sie dort sterben lassen müsste, könnte das für ihn ein großes innenpolitisches Problem werden. Putin ist da ungeheuer zynisch.
Gibt es Anzeichen für Widerstand in der Armee oder in der Bevölkerung?
Keine signifikanten. Es gibt Proteste gegen den Krieg, ja. Aber der kommt aus den Ecken, wo die Proteste gegen Putin und sein Regime schon immer hergekommen sind: aus Moskau und Sankt Petersburg. Der Krieg wird offenbar von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Die Propaganda greift sehr gut. Es gibt immer wieder Berichte über rebellierende Truppen in der Ukraine, aber nicht viele. Die Soldaten müssten angesichts ihrer Ausrüstung eigentlich das Gefühl haben, dass sie nichts anderes sind als Kanonenfutter. Aber es entspricht der russischen Militärkultur, dass man die eigenen Leute erschießt, wenn sie Befehle verweigern.
Putin hat den zweiten Tschetschenien-Krieg begonnen, er hat Georgien angegriffen und dann hat er 2014 die Krim annektiert. Sind das im Rückblick alles Tests gewesen: Wie weit kann ich gehen?
Der Konflikt in Tschetschenien war ein spezifisches innerrussisches Problem, das Putin international erfolgreich als Bekämpfung islamistischen Terrors verkauft hat. Das war durchaus im Interesse des Westens. Syrien war der Vorstoß in ein strategisches Vakuum. Georgien hätte durchaus als Fanal wirken können für die Bereitschaft Russlands, mit militärischer Gewalt Gebietsansprüche durchzusetzen. Spätestens mit der Besetzung der Krim 2014 hätten alle Alarmglocken schrillen müssen. Taten sie ja auch, aber ohne Konsequenzen. Man hat gedacht, diesen Konflikt klein halten zu können, stattdessen hat Putin nur eine kleine Atempause gemacht.
Putin hätte als russischer Präsident weiter im Luxus schwelgen könne, statt einen Krieg anzuzetteln, der ihn international ächtet. Will er in die Geschichtsbücher eingehen – um jeden Preis?
Es gibt zwei Figuren, die für Putin symbolträchtig für die Größe, Stärke und Erweiterung der russischen Macht stehen: Peter, der Große und Stalin. Putin hat sich jüngst dezidiert in eine Reihe mit Peter dem Großen gestellt. Russland soll nach Jahrzehnten der Schmähung wieder zu voller Größe aufsteigt. Das ist seine Mission.
Man hatte ja gehofft, dass die russischen Oligarchen Einfluss auf Putin nehmen werden, dass sie die Macht haben, den Kriegsverlauf zu beeinflussen. Das scheint nicht der Fall zu sein.
Diese Hoffnung war von Anfang an naiv. Putin hat ja immer schon die Oligarchen kontrolliert und nicht die Oligarchen ihn. Es gab ja auch große Prozesse gegen die Oligarchen. Jeder Oligarch, der sich gegen Putin gestellt hat, ist am Schluss vernichtet worden, ist im Exil oder im Gefängnis gelandet.
Am gefährlichsten können Täter sein, wenn sie in die Ecke gedrängt werden. Viele Menschen haben Angst, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte. Welches Szenario wäre für Sie denkbar?
Wenn Russland vor einer massiven militärischen Niederlage in der Ukraine steht, die auch im Inneren nicht mehr zu leugnen ist, dann bestünde die Möglichkeit, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt. Diese Option darf man nicht aus dem Blick verlieren. Wir sollten uns aber nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen von diesen nuklearen Erpressungen. Denn damit will Putin Verhaltensänderungen des Westens bewirken. Auf diese Spielchen darf man sich nicht einlassen. Sonst droht die Gefahr, dass Putin sein Kriegsziel erreicht.
„Wir sehen einen Krieg mit globalem Ausmaß”
Stehen wir am Rande eines Dritten Weltkriegs?
Ich find das Bild schief. Wir sehen einen Krieg mit globalem Ausmaß. Die ganze Politik des Hungers, die steigenden Lebensmittelpreise, sie betreffen viele. Es werden sich auch mehr Flüchtlinge auf den Weg machen weltweit. Aber es ist kein globaler Krieg. Das wäre erst der Fall, wenn es zur direkten Auseinandersetzung zwischen der Nato und der Russischen Föderation käme – unter dem Damoklesschwert des Einsatzes von Nuklearwaffen. Aber da sind wir noch nicht. Deswegen wehre ich mich mit Händen und Füßen gegen dieses Bild.
Nur mal angenommen, Putin würde gestürzt und gefangen genommen. Womit müsste er rechnen?
Ich würde nicht darauf spekulieren, dass wir die nächsten zehn Jahre ohne Putin leben. Es sei denn, er ist wirklich so krank, wie derzeit spekuliert wird. Wir sollten nicht darauf bauen, dass es einen Machtwechsel in Russland gibt. Wenn, wird es ein Eliten-Machtwechsel sein. Putins Nachfolger würde in Grundzügen die gleiche Politik betreiben.
Wolodymyr Selenski hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Wie bewerten Sie sein Auftreten?
Ich finde es bewundernswert, wie professionell er auftritt, auch international. Ich habe mehrere seiner Reden vor Parlamenten gehört, wo er immer einen historischen Moment des jeweiligen Landes mit dem Schicksal seines Landes verknüpft und so einen Bogen geschlagen hat. Das ist schon große Kunst. Die Frage ist, wie lange er das noch machen kann, ohne seine Strahlkraft zu verlieren. Je länger der Krieg dauert, desto größer werden die Abnutzungserscheinungen.
Etliche Unterzeichner eines von Alice Schwarzer initiierten Briefs haben gefordert, statt schwerer Waffenlieferungen alles für einen Waffenstillstand zu tun. Können Sie die Position nachvollziehen?
Diesen Brief haben Menschen unterzeichnet, die sich nicht mit der Realität des Konflikts auseinandergesetzt haben. Kein Mensch leugnet die Bedeutung von Diplomatie. Der Konflikt kann aber erst dann diplomatisch zu Ende geführt werden, wenn eine der beiden Seiten das Gefühl hat, von der Fortführung des Konfliktes mehr zu verlieren als zu gewinnen. Man muss die russische Seite dazu bringen. Dafür sind die Waffenlieferungen essentiell. Aus Moskau kommt eine neoimperiale Fantasie nach der anderen. Jeder Depp darf im russischen Fernsehen seine Vernichtungsfantasien gegenüber der Ukraine äußern. Wenn wir mit Russland heute verhandeln würden, würde das Land auf die Abtrennung der Gebiete im Osten der Ukraine bestehen. Damit würde man ein Signal aussenden, das für die Stabilität nicht nur des europäischen Kontinents, sondern auch der internationalen Politik ein katastrophales wäre. Man muss Verhandlungen und Waffenlieferungen in einem Zusammenhang sehen.
Welche Politiker und Politikerinnen in Deutschland beeindrucken Sie derzeit?
Ich bin von der Art und Weise, wie Robert Habeck und Annalena Baerbock kommunizierten, nachhaltig beeindruckt. Ich kann mich nicht erinnern, dass Politiker dieses Kalibers in einem Ministeramt der Bevölkerung so offen die Zwangslagen dargelegt haben, in denen sie sind und daraus nachvollziehbar ihre Entscheidungen begründet haben. Diese Art der Kommunikation finde ich einzigartig und bewundernswert.
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Die Ukraine hat sehr schnell nach dem russischen Angriff einen EU-Mitglieds Antrag gestellt. Jetzt könnte das Land bald den Kandidatenstatus erhalten. Was würde das für die Ukraine bedeuten?
Zunächst einmal ist das rein symbolisch: Die Europäische Union gesteht zu, dass die Ukraine ein europäisches Land ist, nicht nur geografisch, sondern auch normativ. Danach wird es für die Ukraine ein langer, harter Weg. EU-Mitglied zu werden, ist nicht einfach, wenn man auf die erheblichen Transformationsprozesse in Polen, Bulgarien oder Rumänien guckt.
Wäre der Schritt für Russland eine große Provokation?
Da bin ich mir nicht sicher. Einerseits nimmt Russland die EU nicht ernst, das sieht man immer wieder. Anderseits könnte der Schritt auch als Vorstufe zur Nato gewertet werden. Und bei der Nato schrillen die Alarmglocken in Russland natürlich sofort, weil es dann auch um die Stationierung von Nuklearwaffen auf dem ukrainischen Territorium geht.
Was wird für den Verlauf des Kriegs entscheidend sein?
Die Frage, wie viele und wie schnell Waffen in die Ukraine geliefert werden. Große Waffenlieferungen wären ein Gamechanger. Panzer westlicher Bauart etwa, ich sehe aber nicht, dass die kommen. Der G-20-Gipfel in Indonesien könnte nochmal interessant werden. Russland ist ja Mitglied. Setzt man sich mit Putin dort an einen Tisch, falls er kommt – oder nicht?
Wie ist das Leben in den nicht unmittelbar vom Krieg betroffenen Teilen der Ukraine?
Im Westen der Ukraine oder in und um Kiew herum verläuft das Leben so normal, wie es in dieser Situation möglich ist. Wenn auch unter dem Menetekel, dass die Russen immer wieder mit Raketen auf Kiew schießen, um daran zu erinnern, dass sie durchaus das Potenzial haben, andere Teile der Ukraine anzugreifen. Interessant wird auch die Frage, ob Belarus noch aktiv in den Konflikt mit eingreift. Putin will das ja seit Anfang des Kriegs. Falls Belarus das tun, könnte sich die Situation im Westen der Ukraine noch einmal dramatisch ändern.
Dieses Gespräch können Sie auch als „Talk mit K”-Podcast hören.