Düsseldorf – Wie verbreitet ist der Antisemitismus in NRW tatsächlich? In der Vergangenheit waren Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass antisemitische Einstellungen bei zehn bis 15 Prozent der Deutschen vorhanden sind.
Experten befürchten aber, dass die Zahl deutlich höher sein könnte. Eine Dunkelfeldstudie, die die Landesregierung von NRW jetzt in Auftrag gegeben hat, soll wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zum Antisemitismus liefern. „Wir verschließen unsere Augen nicht vor dem Problem“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul am Dienstag in Düsseldorf. Wenn man das Phänomen besser verstehe, könnten gezielt präventive Maßnahmen erarbeitet werden, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken. „Antisemitismus ist eine große Gefahr für die Demokratie. Er darf in der Gesellschaft keinen Platz haben“, so der Politiker aus Leichlingen.
Koopertationsvereinbarung unterzeichnet
In der Düsseldorfer Staatskanzlei wurde jetzt eine Kooperationsvereinbarung zur Erstellung der Studie unterzeichnet. Das geplante Projekt sei einzigartig in Deutschland, sagte Politik-Professor Lars Rensmann von der Universität Passau. Ziel sei es, auch die „modernisierten Formen“ des Antisemitismus zu erfassen. Dazu würden Holocaust-Relativierungen, Verschwörungstheorien bei Corona-Protesten sowie der „israelbezogener Antisemitismus“ gehören. Der empirische Fokus sei das Land NRW, aber die Befunde würden „ohne Zweifel auch weit über das Land hinaus“ Bedeutung haben, so Rensmann.
Die Wissenschaftler wollen noch in diesem Jahr mit der Durchführung der Studie beginnen. Geplant ist, dass die Bewohner in rund 1200 Haushalten aufgesucht und anhand eines umfassenden Fragebogens zu ihren Einstellungen befragt werden.
Durch spezielle Fragetechniken soll die „wahre Meinung“ aus den Befragten „herausgekitzelt“, werden, sagte Soziologie-Professor Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bislang würden Umfragen zum Thema Antisemitismus oft dadurch verzerrt, dass höher Gebildete keine ehrlichen Antworten bei Tabu-Themen geben würden. „Sie sagen das, was als sozial erwünscht erscheint,“ so Beyer.
Laut Innenminister Reul wurden allein im ersten Halbjahr in NRW 146 antisemitisch motivierte Delikte registriert. „Das ist etwa eine Straftat pro Tag“, sagt der CDU-Politiker. Dies sei nicht akzeptabel. „Jüdisches Leben muss in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein, und zwar ohne Angst oder Sorge vor gewalttätigen Angriffen“, so Reul. Je mehr man über die Entstehung von Antisemitismus wissen, desto effektiver könne man entgegenwirken.
Krisen befördern Antisemitismus
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, erklärte, antisemitische Verschwörungsmythen würden gerade in Krisenzeiten auf fruchtbaren Boden fallen. Statistisch erfasst würden aber nur Straftaten und Vorfälle mit antisemitischem Hintergrund. Daraus könne man nur in einem gewissen Rahmen Rückschlüsse auf die tatsächliche Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments ziehen.
Auch in NRW gehörten antisemitische Sprüche vielerorts zum Alltag. Im Mai vergangenen Jahres gab es eine antisemitische Hass-Demo vor der Synagoge in Gelsenkirchen. Runde einhundert Menschen mit einem überwiegend arabischstämmigen Hintergrund hatten in Sprechchören „Scheiß-Juden" gebrüllt und palästinensische und türkische Fahnen geschwenkt. Erste Ergebnisse der Studie sollen zum Jahresbeginn 2024 vorgelegt werden.